Insel der Verlorenen Roman
aufwachsen. Die schlimmste Krankheit hier ist Durchfall.«
»Hattest du noch mehr Kinder?«
»Einen Sohn, William Henry. Er ist ertrunken.«
Kitty stiegen Tränen in die Augen. »Ach Richard!«
»Sei nicht traurig, Kitty. Das ist alles lange her und weit weg. Hier gibt es diese Gefahren nicht.«
»Aber auch hier kann viel passieren. Man kann vor allem ertrinken.«
»Glaube mir, hier wäre mein Sohn nicht ertrunken. Sein Schicksal war nur in einer Stadt möglich, nicht auf einer kleinen Insel, auf der jeder jeden kennt. Hier leben auch schlechte Menschen, aber wenn einmal eine Schule eingerichtet wird, werden wir Eltern viel mehr über die Lehrer wissen als die Eltern in einer Stadt wie Bristol. An William Henrys Tod war ein Lehrer schuld.« Er sah sie lächelnd an, den Kopf zur Seite gelegt. »Noch weitere Fragen?«
»An was starb deine Frau?«
»An einem Gehirnschlag, zum Glück vor William Henry. Sie hat nicht gelitten.«
»Ach Richard!«
»Es gibt keinen Grund, traurig zu sein, Liebling. Denn ich bin überzeugt, das alles musste passieren, damit wir uns begegnen konnten. In Bristol habe ich die Freuden eines richtigen Familienlebens nie erfahren, auch nicht das Glück, im eigenen Haus zu wohnen. Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du mir als Vater deiner Kinder einen kleinen Platz in deinem Herzen gewährst. Das und die Kinder genügen mir.«
Sie öffnete den Mund und wollte schon sagen, er habe mehr als nur einen kleinen Platz in ihrem Herzen. Doch sie schwieg. So etwas zu sagen war wie ein Versprechen, wie eine Verpflichtung, die sie vielleicht nicht einhalten konnte. Sie hatte Richard sehr gern, aber eben deshalb wollte sie ihm nichts vormachen, das sie nicht wirklich empfand. Er brachte ihr Herz nicht zum Klingen, verlieh ihrer Seele keine Flügel. Sonst wäre alles anders gewesen. Dann hätte sie von Liebe sprechen können.
Im Februar brausten stürmische Winde über die Insel. Doch die Ernte war unter Dach und Fach, und sie würde reichen, um die Inselbewohner zu ernähren. Für Neusüdwales blieb allerdings nichts übrig außer Kalk und etwas Bauholz.
Richard war auf dem Nachhauseweg. Man schrieb den 15. Februar, und er war spät dran und sehr nervös. Der Vizegouverneur hatte ihn aufgehalten und ihm mehr Fragen gestellt, als Kitty sich in einer ganzen Woche ausdenken konnte. Zwar sollte das Baby erst in einigen Tagen kommen, aber Olivia Lucas hatte gesagt, es sei bereits in Geburtslage, und niemand konnte sich Joey Long als Hebamme vorstellen. Beruhigend wirkten auf Richard nur Olivias und Kittys Versicherungen, Erstgeburten ließen sich stets Zeit. Er ging den Weg zum Haus hinunter. Aus dem hohen Schornstein kam kein Rauch. Er beschleunigte seine Schritte. Kitty bestand auch im neunten Monat noch darauf, selbst Brot zu backen.
Kein Laut war zu hören.
»Kitty«, rief er und nahm die drei Stufen zur Tür auf einmal.
»Hier«, rief eine schwache Stimme.
Richards Herz raste. Er riss die Tür auf und erfasste das Wohnzimmer mit einem Blick. Kitty war nicht hier. Im Schlafzimmer - mein Gott! Die Geburt hatte schon angefangen!
Kitty saß aufrecht im Bett, im Rücken zwei Kissen. Mit einem seligen Lächeln sah sie ihm entgegen. »Richard, darf ich dir deine Tochter Kate vorstellen? Sag ihr Guten Abend.«
Seine Knie wurden weich. Er sank auf die Bettkante. »Kitty!«
»Sieh sie dir an, Richard. Ist sie nicht schön?«
Kittys von der Arbeit rauen Hände reichten ihm ein fest gewickeltes Bündel. Es war ungerecht, dass seine Hände viel gepflegter waren als ihre! Er nahm das Bündel und schob das Tuch vorsichtig aus dem winzigen, runzligen Gesicht. Der Mund ein rundes O, die verquollenen Augenlider geschlossen, die Haut dunkel. Auf dem Kopf saß ein dicker Schopf schwarzer Haare. Wieder versank er in einem Meer voller Liebe. Er beugte sich vor, um das kleine Wesen auf die Stirn zu küssen, und spürte, wie ihm Tränen über das Gesicht liefen.
»Ich verstehe das nicht! Heute Mittag ging es dir noch so gut. Du hast überhaupt nichts gesagt.«
»Es gab nichts zu sagen. Mir ging es wirklich gut. Es kam ganz plötzlich, ohne Vorwarnung. Die Fruchtblase platzte, ich spürte einen stechenden Schmerz, dann fühlte ich schon ihren Kopf zwischen den Beinen. Ich legte schnell ein sauberes Tuch auf den Boden, hockte mich hin, und da war sie auch schon. Das Ganze dauerte nicht länger als eine Viertelstunde. Sobald die Nachgeburt da war, nahm ich einen Faden, band die Nabelschnur ab und schnitt sie
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