Insel der Verlorenen Roman
und durch nichts verraten, dass er sich Hoffnung machte, der neue Schulleiter zu werden. Er war an diesem Morgen zu beschäftigt, um von den Lehrern weiter Notiz zu nehmen, und so hatte er ihnen lediglich mitgeteilt, was geschehen war. Harry Hobson erhielt die Aufgabe, die Schüler wieder nach Hause zu schicken, die anderen konnten tun und lassen, was sie wollten.
Mr Parfrey hatte den Tag kurzerhand zum Urlaubstag erklärt. Wenn er blieb, bekam er vielleicht doch noch eine Aufgabe zugeteilt, wenn er dagegen verschwand, war er damit zugleich aus Reverend Prichards Gedächtnis gelöscht.
Mr Parfreys einziger Luxus war ein Pferd. Kein eigenes Pferd natürlich, was jenseits seiner bescheidenen finanziellen Möglichkeiten gelegen hätte. Nein, er mietete sich sonntags manchmal eines in einem Reitstall in der Nähe des Galgens auf St. Michael’s Hill. Montags war die Auswahl viel größer, bemerkte er sofort, als er mit Aquarellfarben und Skizzenblock am Reitstall ankam. Der schöne schwarze Wallach, den er sich schon immer gewünscht hatte, fraß gemächlich sein Heu. Zweifellos rechnete er nach den anstrengenden Sonntagsausflügen heute mit einem Ruhetag. Doch daraus wurde nichts. Zehn Minuten später saß Mr Parfrey im Sattel und lenkte das Pferd über Kingsdown in Richtung Aust Road. Er war ein ausgezeichneter Reiter und brachte das anfangs unwillige Pferd rasch unter Kontrolle.
Einen kurzen Augenblick lang schienen ihn die alten Sorgen einzuholen,
doch der Tag war einfach zu schön, um nicht in vollen Zügen genossen zu werden. Also verdrängte er die Gedanken an seine Einsamkeit und das Alter. Als er den Clifton Hill in Richtung Durdham Down hinaufritt, sah er vor sich Morgan den Dritten. Gesellschaft! Der Schlingel hatte sich ebenfalls einen freien Tag genehmigt. Warum sollten sie den Tag nicht gemeinsam genießen? Dann konnte er zugleich auf den Jungen aufpassen.
William Henry. Ein schöner Name, der zu dem Jungen passte. Alle Lehrer hatten die Begabung von Morgan dem Dritten erkannt, obwohl seine Schönheit bei manchen das Urteilsvermögen trübte. Das galt auch für Parfrey, bis er den jungen Morgan in Latein unterrichtete und feststellte, dass das schöne Gesicht eine schöne Seele widerspiegelte. Den frechen kleinen Bengel dagegen hatte er bis dahin noch nicht kennen gelernt. Im Klassenzimmer benahm William Henry sich wie ein Engel. Den Grund dafür erklärte ihm das Kind mit ernsten Worten, als sie über Durdham Down galoppierten. William Henry wollte nicht verprügelt werden und deshalb nicht auffallen.
Wie konnte er dem Jungen klarmachen, dass er immer und überall auffallen würde? Interessant war auch, dass der Vater dem Jungen so ähnlich sah, doch nicht dessen sprühendes Leben hatte. Nach Richard drehte sich niemand um, nach William Henry alle Welt. William Henry redete wie andere Jungen seines Alters, aber man hörte ihm auch die sorgfältige Erziehung an. Wenn das Gespräch auf das Leben im Wirtshaus kam, zeigte sich, dass ihm nichts Menschliches fremd war, auch nicht so niedere Dinge wie Messerstechereien und Prügeleien. Doch hatte ihm das alles nichts anhaben können, und er wirkte völlig unverdorben.
Sie verließen das Kurhaus und lenkten ihre Schritte wie selbstverständlich zu der Wiese, auf der William Henry mit seinem Vater gepicknickt hatte. Parfrey hatte die beiden dort von oben beobachtet. Die Wiese war nur ein etwa zwanzig Fuß breiter Streifen zwischen den St.-Vincent-Felsen und einem anderen, niedrigeren Felsen.
Obwohl seit dem Picknick neun Monate vergangen waren, war alles merkwürdig unverändert. Der Wasserstand des Avon war genau gleich, wieder näherte die Flut sich dem Höchststand. Das
Gras hatte dieselbe Farbe wie damals, die Felsen leuchteten mit derselben Intensität. Die Zeit schien stehen geblieben.
William Henry setzte sich, George Parfrey holte seinen Skizzenblock und ein Stück Zeichenkohle heraus.
»Darf ich zusehen, Onkel George?«
»Nein, denn ich will dich porträtieren. Halte also still und denke nicht daran, was ich tue. Zähle meinetwegen die Gänseblümchen. Wenn ich fertig bin, darfst du das Bild sehen.«
William Henry blieb also sitzen, wo er war, und George Parfrey begann zu zeichnen.
Am Anfang glitt die Zeichenkohle rasch und von sicherer Hand geführt über das Blatt. Doch dann wurden die Striche langsamer, und schließlich hörten sie ganz auf. Parfrey hatte nur noch Augen für den Jungen vor ihm, geblendet von seiner Schönheit, zugleich aber
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