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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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legte er den Skizzenblock auf den Tisch und schlug die Seite mit William Henrys Porträt auf. Dann holte er einen kleinen Schlüssel aus der Uhrtasche seiner Hose und öffnete ein Kästchen, in dem er Dinge aufbewahrte, die Schnüffler wie Reverend Prichard nicht zu Gesicht bekommen sollten. In dem Kästchen befand sich eine kunterbunte Sammlung verschiedener Erinnerungsstücke - zwei Haarlocken, ein polierter Achat, ein zerlesenes Buch, ein Miniaturgemälde - und ein zweites Kästchen. Es enthielt eine kleine Pistole samt Zubehör. Eine Damenpistole.
    Parfrey lud sie sorgfältig, dann kehrte er zum Tisch zurück, setzte sich auf den schmalen Stuhl, tauchte die Schreibfeder ein, streifte mit einer automatischen Bewegung die überschüssige Tinte ab und schrieb unter die Skizze: »Ich bin schuld am Tod von William Henry Morgan.«
    Er unterschrieb mit seinem Namen, dann schoss er sich in die Schläfe.

    Normalerweise kam William Henry um Viertel nach zwei von der Schule zurück, doch an diesem Tag herrschte im Cooper’s Arms schon lange vorher helle Aufregung. Die Neuigkeit vom Tod des Schulleiters hatte sich blitzschnell in der Stadt verbreitet. Die Schule war geschlossen, doch William Henry war nicht nach Hause gekommen. Als Richard um drei Uhr nachmittags niedergeschlagen und erschöpft zur Tür hereinkam, empfingen ihn die besorgten Großeltern mit der Nachricht, sein Sohn werde vermisst.
    Richard brachte zunächst kein Wort heraus, aber seine körperliche Erschöpfung war schlagartig verschwunden. Er öffnete und schloss mehrmals den Mund, dann flüsterte er schließlich heiser, er werde sofort nach William Henry suchen.
    »Geh du in Richtung Colston«, sagte Dick und nahm seine Schürze ab. »Ich gehe in Richtung Redcliff. Mag, du machst den Laden zu.«
    Inzwischen konnte Richard wieder reden. »Er ist bestimmt nach Clifton gegangen, Vater. Ich gehe über den Brandon Hill, und du nimmst den Weg an der Seilerei vorbei. Wir treffen uns beim Kurhaus.«
    Richards Herz raste und sein Mund war völlig ausgetrocknet. Unterwegs begegnete er nur noch wenigen Leuten, die er fragen konnte. Er klopfte an die Türen der Häuser am Jakobsbrunnen. Nein, niemand hatte einen herumstreunenden kleinen Jungen gesehen.
    Etwas weiter hatte er erstmals Erfolg. Richard, der Stallbursche, war noch immer vor dem Stall beschäftigt.
    »Ja, Sir, er kam am Vormittag vorbei - ein süßer Kerl! Er half mir beim Füttern der Pferde, und ich gab ihm etwas zu essen und zu trinken. Dann ging er den Clifton Hill hinauf.«
    Der Mann sagte offenbar die Wahrheit. Er gehörte zu den gutmütigen Menschen, die sich freuen, wenn ein kleiner Junge ihnen Gesellschaft leistet, und die nicht daran denken, dass sie den Jungen eigentlich ausschimpfen und mit einem Tritt in den Hintern nach Hause hätten schicken sollen.
    Richard murmelte einen flüchtigen Dank und eilte mit noch
schnelleren Schritten den Berg hinauf, bis er nach allen Seiten sehen konnte. Doch er sah nur weidende Schafe, keinen William Henry.
    Um sechs Uhr betrat er das Kurhaus. Dort erwartete ihn schon aufgeregt Dick.
    »Er war zum Mittagessen hier, Richard! Er kam mit dem Pferd, zusammen mit einem gut aussehenden Mann um die vierzig, sagt Mrs Harris, eine alte Dame, die zur selben Zeit hier einkehrte. Sie sagt, die beiden hätten sich gut verstanden. Sie hätten gelacht und gescherzt, als ob sie sich gut kennen würden. Nach dem Essen seien sie in Richtung der St.-Vincent-Felsen gegangen. Etwa eine Stunde später sahen Mrs Harris und zwei andere Frauen den Mann allein wegreiten. Er wirkte niedergeschlagen, und William Henry war nicht mehr bei ihm.«
    Der Pächter war äußerst beunruhigt. Das Letzte, was er zu diesem Zeitpunkt brauchen konnte, war ein Skandal. Er drückte Richard ein großes Glas Mineralwasser in die Hand und setzte sich in einiger Entfernung, um den weiteren Gang der Dinge abzuwarten.
    Richard trank das Glas in einem Zug leer, ohne den bitteren Geschmack und den Geruch nach faulen Eiern wahrzunehmen. Er zitterte am ganzen Körper, seine Kleider waren völlig durchgeschwitzt, seine Augen flackerten. Dann stand er auf. »Komm«, sagte er kurz zu seinem Vater und ging los.
    Auf der Wiese, die Richard von dem früheren Ausflug kannte, hatten William Henry und sein Begleiter Spuren hinterlassen. Das Gras war niedergetrampelt, Gänseblümchen waren abgepflückt worden, ein kleiner, bereits welkender Strauß lag im Gras. Die Männer riefen unentwegt nach dem Jungen, bekamen aber

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