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Insel der Verlorenen Roman

Titel: Insel der Verlorenen Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
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auch voller böser Vorahnungen.
    Es ist der falsche Zeitpunkt, der ganz und gar falsche Zeitpunkt. Ich bin bis über beide Ohren verliebt in einen unschuldigen Jungen, von dem mich fünfunddreißig Jahre trennen. Bis ich die Liebe in ihm erwecken könnte, würde er nichts Liebenswertes mehr an mir finden. Das ist eine Tragödie, die das Schreiben lohnte, William Shakespeare. Wenn er Hamlet ist, dann bin ich Lear.
    William Henrys Haarband hatte sich gelöst. Die dunklen, vollen Locken umstanden sein Gesicht wie schwarzer, vom Wind aufgewirbelter Rauch. Die Haut glänzte weich und glatt wie Satin, nein wie ein Pfirsich - wie Elfenbein. Die schmale Adlernase und hohen Wangen verliehen dem Gesicht eine aristokratische Note. Der Mund war voll und sinnlich, die Mundwinkel wie zu einem heimlichen Lächeln verzogen. Und dann erst die Augen!
    Als hätte er Parfreys Stimmungswandel gespürt, blickte William Henry auf und sah seinem Gegenüber direkt in die Augen. Das geheimnisvolle Lächeln erschien dem hingerissenen Parfrey plötzlich wie eine Einladung, ausgesprochen von einem William Henry, den der Junge selbst nicht kannte. Die Augen des Jungen leuchteten, die dunklen Pupillen tanzten auf einem goldenen Hintergrund.
    Da überkam es George Parfrey, noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte. Er ließ Block und Stift fallen, beugte sich
vor und küsste William Henry auf den Mund. Und dann musste er den Jungen festhalten, er konnte ihn nicht mehr loslassen, musste ihn überallhin küssen, auf Augenbrauen, Wangen und Hals, und er musste den kleinen Körper streicheln, der vibrierte wie der Körper einer schnurrenden Katze.
    »Du bist so schön!«, flüsterte er. »So wunderschön!«
    Der Junge riss sich verzweifelt von ihm los, sprang auf und sah sich mit aufgerissenen Augen um. In welche Richtung sollte er rennen? Angst empfand er noch keine. Er dachte nur an Flucht.
    Schlagartig fiel der Wahnsinn von Parfrey ab. Er stand auf und streckte die Hand aus. Dass er William Henrys einzigen Fluchtweg blockierte, merkte er nicht.
    »William Henry, es tut mir so Leid! Ich wollte dir nichts Böses antun! Das würde ich nie! Es tut mir so Leid!« Um Verzeihung bittend breitete er die Arme aus. Sein Atem ging schwer.
    Plötzlich war die Panik da. William Henry sah nur Hände auf sich zukommen, er begriff nicht, warum. Wohin konnte er fliehen? Unter ihm schäumte der Avon. Mr Parfrey kam immer näher, seine Arme wollten ihn packen und festhalten, und sein Lächeln war falsch. William Henry wusste aus dem Cooper’s Arms, was dieses Lächeln bedeutete. Wenn sein Vater und Großvater weggesehen hatten, hatten andere Männer ihm so zugelächelt und ihn flüsternd gelockt. William Henry wusste, dieses Lächeln war falsch, auch wenn er es missverstand.
    Er blickte nach oben, direkt in die Sonne. Geblendet schloss er die Augen.
    »Papa!«, schrie er verzweifelt und sprang über den Felsen, in den Fluss.
     
    Niemand konnte sich in der reißenden Strömung über Wasser halten, und Parfrey war Nichtschwimmer. Dennoch rannte er wie ein Besessener auf dem schmalen Uferstreifen auf und ab und starrte in das Wasser. Wenn er etwas gesehen hätte, eine Hand, einen Arm, egal was, wäre er sofort ins Wasser gesprungen. Aber er sah nichts. Kein Blatt, keinen Zweig, keinen Ast, von William Henry ganz zu schweigen. Der Junge war untergegangen wie ein Stein.

    Was war in ihm vorgegangen? Was hatte er vor sich gesehen? Woher dieses blanke Entsetzen? Hatte er ins Wasser springen wollen? Wusste er, was er tat, als er sprang? Oder war er völlig von Sinnen? Er hatte nach seinem Vater gerufen. Dann war er gesprungen. Nicht gestolpert oder hingefallen. Gesprungen.
    Eine halbe Stunde später gab Parfrey auf. William Henry Morgan würde nicht mehr auftauchen. Er war tot.
    Der Junge ist tot, und ich habe ihn umgebracht, dachte Parfrey. Ich habe nur an mich gedacht, ich wollte von ihm geliebt werden und bildete mir ein, er hätte mir ein Zeichen gegeben. Dabei war er erst neun Jahre alt. Neun . Was bin ich für ein Scheusal, ein Ungeheuer. Ich habe ein Kind ermordet.
    Er bestieg sein Pferd und ritt langsam am Kurhaus vorbei in Richtung Bristol. Die neugierigen Blicke der alten Dame und der beiden verkrüppelten Frauen beachtete er nicht. Wie seltsam! Dort ritt der Mann, aber wo war der süße kleine Junge?
    An der Schule angelangt, ließ Parfrey das Pferd vor dem Tor stehen und ging hinein, ohne jemanden wahrzunehmen. Wer ihn sah, erschrak. In seiner Schlafkammer

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