Insel meiner Sehnsucht Roman
seiner Seite. Ganz deutlich spürte er die Nähe seines Vaters – und dahinter andere Vorfahren, die ihn sein Leben lang begleiten würden, weil er für immer und ewig zu ihnen gehörte.
Trotzdem war er allein, so wie jeder seiner Ahnen zu gewissen Zeiten, allein mit einem Feind, der seine dunkelsten, wildesten Emotionen weckte. Hass, Zorn, Rachedurst, die nur Deilos' Blut stillen würde, wenn es aus einer tödlichen Wunde floss und in die schwarze, vom Griechischen Feuer verkohlte Erde sickerte.
Akora ist ein Ort des Lebens.
Plötzlich drangen die Worte in einen verborgenen Teil seiner Seele, der für die reine Wahrheit bestimmt war. Erinnerungen kehrten zurück – an die vielen Stunden, die er als kleiner Junge in der Bibliothek von Hawkforte verbracht hatte, vom Mysterium Akoras fasziniert. Verregnete Nachmittage, stürmische Nächte, dem Studium der Kunstwerke gewidmet, die sein Ahnherr nach Hause geschickt hatte. Immer wieder hatte Royce sie in seinen Händen hin und her gedreht und die Kraft gespürt, die sie ausstrahlten, aber es war ihm nicht gelungen, ihr einen Namen zu geben.
Jetzt wusste er Bescheid. Überall auf Akora hatte er diese Kraft gefunden, in den Gesichtern gewöhnlicher Männer und Frauen ebenso wie in dem seltsamen, von Moos überwachsenen Gesicht, das aus dem Stein der geheiligten Höhle spähte.
Und vor allem in Kassandra.
Trotz ihrer Überzeugung, sie wäre dem Tod geweiht, entsagte sie nie ihrer leidenschaftlichen Hingabe an das Leben.
Deilos' Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg, der das Höllenfeuer schürte. Im Mondlicht wirkten seine Züge aschfahl.
»Zurück, Engländer!«, zischte er. »Sie dürfen mich nicht töten! Denn die Götter haben mich zum Herrscher von Akora ernannt!«
»Akora ist ein Ort des Lebens«, sagte Royce leise. Wie ein Windstoß bewegte sich sein Schwert, so schnell, dass Deilos es gar nicht sah.
Verständnislos starrte er Royce an. Die Worte bedeuteten ihm nichts, obwohl er sich für den rechtmäßigen Vanax des Landes hielt, dessen innerstes Wesen er niemals auch nur annähernd erkannt hatte.
Noch eine Sekunde verstrich – und noch eine, bevor Dei-los schrie. Die Wahrheit blieb ihm ein Rätsel. Umso schmerzlicher wurde ihm seine Niederlage bewusst. Mit bebenden Fingern umklammerte er den Stumpf seines Unterarms, von dem die Hand mitsamt dem Schwert abgefallen war.
Am Wasserrand wuchs Moos, unberührt vom Griechischen Feuer. Royce bückte sich, pflückte ein Büschel und wischte das Blut von seiner Klinge. Dann steckte er das Schwert in die Scheide, ohne einen Blick auf den Verräter zu werfen, der unentwegt schrie.
»Bringt ihn an Bord«, befahl er seinen Männern und wandte sich zum Meer.
20
Marcellus erwartete sie am Kai, von Soldaten flankiert. Voller Genugtuung beobachtete der Friedensrichter, wie Deilos und seine Männer auf Wagen verfrachtet und zum Gefängnis gebracht wurden.
Als das letzte Vehikel davongerollt war, verneigte er sich vor Royce. »Diese Aufgabe haben Sie sehr gut gelöst, Lord Hawk.«
»Alles Weitere müssen Sie übernehmen – worum ich Sie nicht beneide.«
»Sie sind ein Krieger, ich bin ein Richter, und so geht jeder von uns seine eigenen Wege.« Höflich wandte sich Marcellus zu Kassandra. »Ihre Mutter lässt Sie bitten, sofort in den Palast zu kommen, Atreides.«
»Wissen Sie, warum?«
»Leider nicht.«
Angstvoll presste sie ihre Hände auf die Brust. Vor der Ankunft im Hafen von Ilius hatte sie den Himmel nach Rauchwolken abgesucht, die Atreus Tod verkünden würden, und zu ihrer Erleichterung keine entdeckt. Aber nun befürchtete sie das Schlimmste. Instinktiv fragte sie Royce: »Begleitest du mich?«
Erst jetzt merkte sie, dass er sie beobachtete. Obwohl sein Verhalten distanziert blieb, schlug er ihr die Bitte nicht ab. »Wenn du es wünschst …«
Ein Streitwagen stand bereit. Während sie den Hang hinauf zum Tor der Löwinnen fuhren, standen sie Seite an Seite – und doch so weit voneinander entfernt.
Im Palasthof gewann Kassandra den Eindruck, hier wäre alles genauso wie zuvor. Aber das musste nichts bedeuten. Ihre Eltern hatten vielleicht beschlossen, eine traurige Neuigkeit vorerst geheim zu halten und die Ereignisse auf Deimatos abzuwarten.
Sobald sie den privaten Flügel das Palastes betrat und neugierigen Blicken entronnen war, ließ sie die Maske ruhiger Gelassenheit fallen. Aufgeregt begann sie zu laufen. Kurz bevor sie Atreus' Suite erreichte, öffnete sich die Tür, und eine junge
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