Insel meiner Sehnsucht Roman
bereicherst.«
Allem Anschein nach war dies ein Tag, an dem ständig Tränen flossen. Schluchzend drückte Kassandra ihre Mutter an sich. Und dann beobachtete sie über Phaedras Schulter hinweg, wie Royce das Zimmer verließ.
Sie folgte ihm nicht. Weder ihr Stolz noch die Schicklichkeit hinderten sie daran, sondern kalte Angst.
Weil sie sich danach erkundigt hatte, wusste sie, dass er eine Besprechung mit Marcellus und anderen Männern abhielt. Das hatte Sida ihr mitgeteilt, ohne eine Miene zu verziehen, und ihr ein Tablett mit Biskuits und einem Beruhigungstee gebracht. »Essen Sie, Prinzessin. Wenn Sie erkranken, wird mir Ihre Mutter niemals verzeihen.«
»Wann war ich jemals krank?«
»Mit acht Jahren bekamen Sie die Masern.«
»Das habe ich vergessen.«
»Im Gegensatz zu anderen Menschen. Damals bangten wir um Ihr Leben.« Die Dienerin kräuselte ihre Lippen. »Übrigens nicht zum letzten Mal.«
»Ich tat immer nur, was nötig war«, betonte Kassandra. Wollte das denn niemand verstehen? Wurde sie von sämt lichen Leuten verurteilt?
War sie zum schändlichsten aller Gefühle verdammt – zum Selbstmitleid?
Bei diesem Gedanken erschauerte sie und trank den Tee, der sie ein wenig besänftigte.
Sida öffnete die Brosche, die Kassandras Tunika an der Schulter zusammenhielt, und zog ihr das Gewand aus. Dann streifte sie ihr ein Nachthemd über den Kopf und schlug die Bettdecke zurück. »Es kommt eine Zeit, da ist es richtig, die Sorgenlast abzuschütteln.«
»Eine neue Welt …«
»Vielleicht. Von solchen Dingen verstehe ich nichts. Jedenfalls ist es eine Welt, in die wir unversehrt geraten werden, dem Schöpfer sei Dank, und wir müssen uns darin zurechtfinden, so gut es geht.«
Unter Kassandras Rücken fühlte sich das Leinen angenehm kühl an. Sida ging zu den Fenstern, schloss die Läden, und düstere Schatten erfüllten den Raum.
»Schlafen Sie jetzt, Prinzessin«, sagte die Dienerin leise, ging hinaus und überließ Kassandra ihren Träumen.
Fragmente aus Erinnerungen und Fantasien suchten sie heim. Wieder auf Deimatos, kämpfte sie mit ihrer Angst. Danach kehrte sie ins Londoner Haus zurück und tanzte im Sonnenschein. Royce und der dunkelhaarige Junge kamen zu ihr. Oh, wie sie die beiden liebte! Sie hörte die Stimme von Atreus – und sie klang so wie in den längst vergangenen Tagen, bevor er in die Höhle hinabgegangen und als der Erwählte herausgestiegen war.
»Schau, Kassandra, dieser große Fisch!«
Zusammen mit Alex und Atreus saß sie am Ufer eines Flusses, sie waren noch sehr klein. Umso größer erschien ihnen der Fisch, der im Sonnenlicht silbrig glänzte. Sie brieten ihn, würzten ihn mit Zitronensaft und Pfeffer. Wie köstlich er schmeckte …
»Großvater ist tot.«
Damit meinte Alex seinen und ihren Großvater, der in England gestorben war. Deshalb musste er hinfahren. In einem Brief erklärte er ihr, warum er dort bleiben musste – um Akoras Interessen zu dienen. Die Welt veränderte sich, und das Königreich musste mit den neuen Entwicklungen Schritt halten.
Schmerzlich vermisste sie ihren Bruder und träumte davon, England kennen zu lernen. Das hatte sie getan – gemeinsam mit Royce.
Ein Stöhnen durchdrang ihre Träume. Voller Unbehagen erwachte sie. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Kassandra setzte sich im Bett auf. Völlig reglos hatte sie in ihrer Erschöpfung dagelegen. Und jetzt spürte sie ihre steifen Glieder.
Dieses Bett hatte Royce mit ihr geteilt. Jetzt erschien es ihr leer und kalt. Kurz entschlossen stand sie auf und hüllte sich in einen Umhang. Dann verließ sie ihre Suite, stieg die Treppe hinab und eilte ins Freie.
Über dem Palasthof, wo jeden Tag reges Leben und Treiben herrschte, lag dunkle Stille. Als Kind hatte sie geglaubt, dies müsste das Zentrum der Welt sein. Und das dachte sie immer noch. Ringsum auf den Mauern patrouillierten die Wachtposten, und Kassandra hoffte, keiner würde sie entdecken. Wohin sollte sie gehen? In den Höhlen unterhalb des Palastes lauerten qualvolle Erinnerungen. Dort hatte sie ihre Visionen gesucht und sich dem Mann hingegeben, den sie liebte.
Nein, solchen Reminiszenzen wollte sie sich jetzt nicht ausliefern.
Um diese Stunde waren die öffentlichen Palasträume leer. Da drin gab es nichts, was sie interessierte. Und die Bibliothek? Auch in diesem unterirdischen Gewölbe würde sie Erinnerungen begegnen.
Schließlich entschied sie sich für das Dach. Dort oben lag ein magisches, geheimnisvolles
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