Insel meiner Sehnsucht Roman
worden war. Und sobald er das Ufer erreicht hatte, war er in die Hände seiner Feinde geraten. Nach einem Schlag auf den Kopf halb bewusstlos, nahm er kaum wahr, wie ihn Deilos' Männer fesselten. Aber er hatte erkannt, wie Akora aussah – steinig und abweisend, grausam und unerbittlich.
War dies nur ein scheinbares Paradies – mit grünen Hügeln, weißen Tempeln, florierenden Bauernhöfen, mit goldenen Stränden, von azurblauen Wellen überspült?
Sie waren durch die südliche Meeresstraße herangesegelt, wie Royce vor so vielen Monaten. Aber statt zu den drei kleinen Inseln in der Mitte des Binnenmeers geschleudert zu werden, den einzigen Resten des versunkenen Akora, folgten sie der Küste der großen Ostinsel, die Kallimos hieß – die Schöne. Diesen Namen verdiente sie. Weit drüben im Westen, nur durch ein Fernrohr sichtbar, lag die ebenso große Insel Leios, nach ihrer fruchtbaren Erde benannt. Aber seine Aufmerksamkeit galt Ilius.
Er wusste, dass er in diese Stadt gebracht worden war, nachdem Joanna und Alex ihn gerettet hatten. Ein paar Tage lang hatte Elena ihn im königlichen Palast gepflegt. Daran erinnerte er sich kaum, und ebenso vage an seine Abfahrt nach England. Erst während der Reise war er allmählich zu sich gekommen.
Vielleicht erschien ihm deshalb alles so neu und anders, weil fast nichts in seinem Gedächtnis haftete oder weil er jetzt als freier Mann hier eintraf. Aus welchen Grund auch immer, eins ließ sich nicht leugnen – dieses Land war atemberaubend schön.
»Es wundert mich nicht, dass die Akoraner ihr Inselreich für sich behalten wollen«, sagte er zu Kassandra, die neben ihm stand.
»Damals hast du meine Heimat von ihrer schlimmsten Seite kennen gelernt, und jetzt wirst du sie hoffentlich von ihrer besten sehen.«
Ihr Wunsch erfüllte sich, denn während sie den Hafen erreichten, erblickte er eine märchenhafte Stadt. Ilius zog sich den Hang empor, eine blumengeschmückte Häuserreihe hinter der anderen, durchkreuzt von gewundenen Straßen, die zum königlichen Palast hinaufführten. Im Licht der sinkenden Sonne schimmerten die Türme karmesinrot.
»Welch ein unglaubliches Häusermeer!«, bemerkte Royce. Der Gipfel des Hügels erweckte die Illusion, er wäre abgesägt und durch einen Gebäudekomplex ersetzt worden.
»Über dreitausend Jahre lang haben wir Ilius erbaut«, erklärte Kassandra. »Und es widerstrebt uns, auch nur eine einzige Mauer niederzureißen. Im Palast gibt es Gemächer, die sich immer noch im ursprünglichen Zustand befinden.«
»Dreitausend Jahre alte Räume? Werden sie weiterhin benutzt?«
»Oh ja. Wir lassen sie regelmäßig renovieren.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen. In Europa erscheinen uns Bauwerke, die vor ein paar Jahrhunderten errichtet wurden, altehrwürdig. Hier würde man sie vermutlich als ›neu‹ bezeichnen.«
»Gewiss, obwohl wir nur selten eine Gelegenheit finden, dieses Wort zu gebrauchen.«
Royce starrte den Palast an und schüttelte erstaunt den Kopf. »Irgendwie gewinne ich den Eindruck, das Rom und das Athen der Antike, sogar die ägyptischen Tempelstädte würden immer noch leben und gedeihen, nichts wäre jemals verfallen oder zerstört worden.«
»Auf Akora hört jedes Schulkind die Geschichte vom gewaltigen Überlebenskampf nach dem Ausbruch des Vulkans. Die Erkenntnis, wie kostbar unser Besitz ist und wie sorgsam wir ihn schützen müssen, ist tief in uns allen verwurzelt.«
Langsam ließ er seinen Blick über die Stadt gleiten und versuchte zu begreifen, was er sah. Kein anderes Volk hatte seine Vergangenheit so unversehrt in die Gegenwart herübergerettet. Außerdem hatten die Akoraner den noch schwierigeren Balanceakt vollbracht, ihre Kultur zu bewahren und gleichzeitig weiterzuentwickeln oder zu verändern. Diese Leistung zeugte von Beharrlichkeit und subtilem Geist, einer bewundernswerten Kombination.
Dies alles hatte er sich während unzähliger Stunden in der Bibliothek von Hawkforte ausgemalt. Fasziniert studierte er die Kunstwerke, die sein Ahnherr vor Jahrhunderten aus dem kämpferischen Königreich nach England geschickt hatte. Die Neugier und Begeisterung eines Jungen war zur Entschlossenheit eines Mannes geworden. Und diese Zielstrebigkeit hatte ihn zu dem Augenblick geführt, den er jetzt erlebte. Zu einem Moment, der ohne die Frau an seiner Seite nicht so wundervoll wäre …
»Kassandra, du hast mir erzählt, du wüsstest, was mit meinem Vorfahren geschah, der vor langer Zeit hierher kam.
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