Insel meiner Sehnsucht Roman
ging weiter. »Offenbar hat Kassandra Recht. Du hast das Herz eines Kriegers.«
Als Kassandra ihrem Bruder und Royce entgegenblickte, fand sie ihre Vermutung bestätigt. Die beiden verstanden sich sehr gut. Damit hatte sie gerechnet. In vieler Hinsicht glichen sich der Lord of Hawkforte und der Vanax von Akora – beide waren stolz und ehrenwert, Führernaturen, stark, aber auch zur Sanftmut fähig.
Den einen, Atreus, liebte sie innig, und den anderen … Nein, es wäre albern, auch nur einen Gedanken an solche Dinge zu verschwenden. Und es war so schwierig, nicht daran zu denken.
»Da bist du ja.« Liebevoll lächelte ihr Bruder sie an.
Sie hatte bereits mit ihm über ihren Entschluss gesprochen, damals nach England zu reisen, ohne ihn über die Rückkehr der Visionen zu informieren. Bei dieser Unterredung hatte Atreus nur seine Verwunderung bekundet, nicht seine Enttäuschung. Aber er akzeptiere ihre Erklärung, sie habe den Besuch in Großbritannien für lebenswichtig gehalten, obwohl im Grunde nichts dabei herausgekommen sei. Wie immer ließ er sich von seinem tief verwurzelten Gerechtigkeitsgefühl leiten, als er ihre Handlungsweise beurteilte. Außerdem vertraute er ihr ganz einfach – eine Erkenntnis, die ihr Gewissen plagte.
»Hast du auf uns gewartet?«, fragte er.
Auf ihn – auf Royce … »Nein«, entgegnete sie verlegen. »Ich war gerade auf dem Weg zur Bibliothek. Und da sah ich euch kommen. Habt ihr euch gut amüsiert?«
»Eigentlich war's eher anstrengend«, antwortete Royce. »Darf ich dich in die Bibliothek begleiten?«
Zu ihrer Bestürzung spürte sie, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Eh – warum nicht?«
Atreus warf ihr einen kurzen, prüfenden Blick zu. »Ja, das ist eine gute Idee. Royce, wir sehen uns beim Abendessen.«
Nachdem er sich verabschiedet hatte, schlenderte er davon, und Royce wandte sich wieder zu Kassandra: »Der Vanax hat mir von den Spielen erzählt.«
Aufmerksam musterte sie die Schramme unter seinem rechten Auge. »Das hat er offensichtlich mit einem eindrucksvollen Anschauungsunterricht verbunden.«
»Ja, er hat mir einige Tricks gezeigt. Aber ich konnte mich revanchieren, und nun freue ich mich auf die olympischen Spiele.«
»Tatsächlich? Heißt das – du willst daran teilnehmen? Findest du das klug? Bei diesen Wettkämpfen geht es ziemlich rüde zu, und ich kenne viele Männer, die verletzt wurden.«
»Glaubst du, davor fürchte ich mich?«, fragte er.
»Nein, natürlich nicht. Das wollte ich nicht andeuten.« Zum Teufel mit diesem männlichen Stolz, über den sie immer wieder stolperte … »Sicher wirst du dich großartig schlagen. In welcher Disziplin möchtest du antreten?«
»Am liebsten im Kurzstreckenrennen.« Damit nannte er das wichtigste Ereignis der Spiele. »Dann im Ringen, im Speer- und Diskuswerfen.«
Kassandra verstand seinen sichtlichen Enthusiasmus, und sie würde es genießen, ihn zu beobachten, wenn er sich mit den starken Akora-Kriegern maß. Seit seiner Kindheit faszinierte ihn ihre Heimat, und nun würde er sich mit der Teilnahme an den typisch akoranischen Wettkämpfen einen lang gehegten Wunsch erfüllen.
»Möge das Glück auf deiner Seite stehen«, sagte sie leise. Dann suchten sie den Flügel des Palasts auf, in dem die Bibliothek lag.
Die breite Doppeltür stand offen und gab den Blick auf einen lang gestreckten, schön proportionierten Raum frei. An der hohen Decke stellten farbenfrohe Fresken verschiedene Szenen aus dem akoranischen Leben dar. Die großen Fenster oberhalb einer Galerie, die um den ganzen Saal herumführte, spendeten helles Licht. Entlang der Wände erhoben sich Regale für Bücher und Schränke für Schriftrollen, auf blank polierten, von bequemen Sesseln umgebenen Tischen standen Tintenfässer und Lampen. Einige Dutzend Gelehrte beugten sich über ihre Arbeit, emsige Bibliothekare versorgten sie mit immer neuem Studienmaterial.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, murmelte Royce. Ehrfürchtig schaute er sich in dem imposanten Tempel des Wissens um.
»Hier wird nur ein kleiner Teil der Sammlung verwahrt«, erklärte Kassandra. »Die meisten Bücher und Handschrif
ten lagern in unterirdischen Gewölben.«
»Darf ich sie sehen?«
Sie nickte. »Da gehen wir jetzt hin, denn die Dokumente über deinen Ahnherren befinden sich im Untergeschoss.«
Auf leisen Sohlen ging sie zu einer Tür zwischen hohen Regalen, öffnete sie, und Royce folgte ihr gewundene steinerne Stufen hinab. Kleine Fenster,
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