Insel meiner Sehnsucht Roman
und rannte die Stufen zum Palasthof hinab – so wie in der Kindheit, wo sie vor lauter Hast immer wieder gestolpert und gestürzt war und sich die Knie aufgeschürft hatte. Jetzt entging sie diesem Schicksal, aber sie rang nach Atem, und ihr Haar war zerzaust.
Glücklicherweise fiel das niemandem auf, denn die Aufmerksamkeit der Leute galt den gelben Bannern, die den Hof füllten. Einige hingen an den Mauern, andere lagen am Boden. Und alle waren mit demselben Wort bedruckt.
HELIOS
Die Rebellen. Was sie im Schilde führten, wusste Kassandra. Davon hatte Atreus ihr erzählt. Im Lauf des vergangenen Jahres hatten sie ihr Bestes getan, um das Volk auf ihre Forderungen hinzuweisen. Aber nun fand ihre Demonstration zum ersten Mal auf dem Grund und Boden des Palasts statt.
HELIOS
Offenheit, Rechenschaft gegenüber der Bevölkerung. Oberflächlich betrachtet, könnte man keine Einwände dagegen erheben. Sie wusste, wie oft sich der Vanax mit Interessenskonflikten herumschlagen musste, um alle Leute zufrieden zu stellen. Er arbeitete hinter den Kulissen, ein meisterhafter Diplomat und Taktiker, der geschickt mit gegnerischen Seiten verhandelte und geduldig nach den besten Lösungen aller Probleme suchte. Was würde geschehen, wenn er auf den Schutz der Diskretion verzichten musste, wenn jede Art von Subtilität verboten wurde?
Dann bricht ein Chaos aus, dachte sie seufzend. Der Ruf der Rebellen nach sofortigen, tief greifenden Reformen ergab ebenso wenig Sinn wie Deilos Bestreben, überhaupt nichts zu verändern. Nun saß Atreus zwischen zwei Lagern in der Falle. Darum beneidete sie ihn nicht, obwohl sie wusste, dass er sich solchen Herausforderungen gewachsen fühlte. Immerhin war er der Erwählte – und im Augenblick ziemlich wütend.
Das erkannte sie sofort, als sie ihn im Hof stehen sah.
Die Hände in die schmalen Hüften gestemmt, inspizierte er die gelben Spruchbänder. Kassandra ging zu ihm und bemerkte möglichst beiläufig: »Zumindest kannst du ihnen nicht vorwerfen, sie würden auf der faulen Haut liegen.«
Der Vanax wandte sich zu ihr und lächelte gequält. »Da hast du Recht. Aber ich wünschte, sie würden ihren Eifer in
nützlichere Bahnen lenken.«
»Weißt du, wer dafür verantwortlich ist?«
»Nein. Die Leute sind sehr gut organisiert. Blitzschnell führen sie ihre Agitationen durch. Und sie hinterlassen niemals verräterische Spuren. Natürlich kennen sie die Routine des Palasts. Zum Beispiel wissen sie genau, wann die Wachen abgelöst werden.«
»Glaubst du, sie haben innerhalb dieser Mauern Anhänger gefunden?« Dieser Gedanke beunruhigte Kassandra.
»Das würde ich nicht ausschließen«, erwiderte er achselzuckend. »Aber genug davon. Hast du dich erholt?«
»Erholt?«
»Von der Unpässlichkeit, die dich gestern Abend daran gehindert hat, mit uns zu essen.«
»Oh – ja, gewiss.«
»Freut mich zu hören.« Seine Augen verengten sich. »Auch Royce wird erleichtert aufatmen.«
Verstört wich sie seinem Blick aus. Ihr Bruder sah viel zu viel. »Musst du nicht in die Arena gehen? Bald wird die Eröffnungszeremonie beginnen.«
Atreus hob eine Hand und ließ einen Streitwagen vorfahren. »Komm, Kassandra.« Höflich bot er ihr seinen Arm.
Nur widerstrebend folgte sie ihm. Doch etwaige Beobachter würden unangenehme Fragen stellen, wenn sie sich weigerte. In hohem Tempo, das jeden weniger geschickten Fahrer zum Verrückten gestempelt hätte, steuerte er den Wagen durch die Stadt. Normalerweise würde er das nicht riskieren. Aber da an diesem Morgen die gesamte Bevölkerung bereits zur Arena gegangen und die Straßen leer waren, musste er keinen Unfall befürchten.
Bald erreichten sie ihr Ziel. Atreus zügelte die Pferde im schattigen Tunnel, der zu einer sonnenhellen Wiese führte. Dort würden die Wettkämpfe stattfinden.
Bevor Kassandra ausstieg, berührte sie den Arm ihres Bruders. »Möge das Glück auf deiner Seite stehen.«
»Das werde ich brauchen. Ich habe mich für das Wagenrennen gemeldet.«
» Was … ? « Doch sie sprach ins Leere, denn er lenkte das Gespann bereits in die Arena hinaus. Bei seinem Anblick brach das Publikum in ohrenbetäubenden Jubel aus, der Kassandras Herz schmerzhaft zusammenkrampfte. Das Wagenrennen war die gefährlichste Disziplin der olympischen Spiele. Kaum ein Jahr verging, ohne dass dabei ein Mann verletzt oder sogar getötet wurde.
Atreus liebte Pferde. Und er liebte es, sie zu rasender Geschwindigkeit anzutreiben. Als blutjunger
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