Insel meiner Sehnsucht Roman
hoch oben in die Mauer eingelassen, ließen nur gedämpftes Licht ins Treppenhaus. Je tiefer sie hinunterstiegen, desto kühlere Luft wehte ihnen entgegen.
Schließlich betraten sie einen großen Raum voller Regale, die kein Ende zu nehmen schienen. Ein Bibliothekar fragte nach Kassandras und Royces Wünschen, reichte ihnen eine Lampe und beschrieb ihnen den Weg zu den Schriftstücken, die sie einsehen wollten.
Bis sie fanden, was sie suchten, dauerte es etwa fünf Minuten.
»Erstaunlich«, meinte Royce, als er die Lampe in einen Eisenring an der Wand steckte. »Verzeih mir die Frage – werfen die Akoraner niemals irgendwas weg?«
Statt zu antworten, lachte Kassandra. Sie nahm ein kleines, in Leder gebundenes Buch aus einem Regal, trug es in einen Alkoven und legte es auf einen Tisch. Vorsichtig blätterte sie die vergilbten Seiten um. »Im Frühling des Jahres 2594 nach dem Ausbruch des Vulkans brach plötzlich ein gewaltiger Sturm los … Ein Xenos wurde gefunden, der sich an den Mast eines Schiffswracks klammerte, ins Haus des Fischhändlers Horatio gebracht – und von dort in den Palast …«
» 2594 «, wiederholte Royce. »Welches Jahr wäre das nach der christlichen Zeitrechnung?«
» 1100 vor Christus, glaube ich. Also wird sich's nicht um deinen Vorfahren handeln. Aber das hier müsste ein Bericht über ihn sein. Hör zu – der Xenos erholte sich von seinen Verletzungen. Dann schilderte er große Schlachten, die auf dem Erdteil Europa ausgefochten wurden. Dabei kämpfte man um die Herrschaft in verschiedenen heiligen Gebie ten … Sein Haus hieß …« Eifrig blickte sie auf. »Oh, es wird mit ›Festung des Habichts‹ übersetzt.«
»Hawkforte!«, rief Royce aufgeregt. »Steht da noch etwas? Was ist mit ihm geschehen?«
Kassandra blätterte ein paar Seiten weiter. »Ja. Da findest du eine ganze Menge.« Sie reichte ihm das Buch. »Vielleicht möchtest du es selber lesen? Diese Bücher darf man sich ausleihen, wenn man verspricht, sie pfleglich zu behandeln.«
»Das schwöre ich dir.« Vorsichtig drehte er den kleinen Band hin und her. »Auch in der Bibliothek von Hawkforte bewahren wir einige sehr alte Bücher auf. Deshalb weiß ich, wie man damit umgehen muss.«
»So alt ist dieses Buch gar nicht. Nur um die achthundert Jahre. Wenn du ältere Werke sehen willst – genau genommen Schriftrollen – , werde ich dich weiter nach hinten führen.«
»Danke, nicht nötig. Vorerst bin ich mit diesem Buch vollauf beschäftigt. Aber vielleicht ein andermal.«
»Einverstanden.« Ein andermal? An spätere Zeiten wollte sie jetzt nicht denken. Nur an den Augenblick. Abwechselnd beleuchtete und verbarg der Schatten, den die Lampe warf, Royces Gesichtszüge. Und plötzlich wurde Kassandra bewusst, dass sie allein mit ihm war. »Nun sollten wir gehen.«
»Warum?« Seine Hand streifte ihren Arm.
»Weil – du dich ausruhen musst, bevor morgen die Spiele beginnen.«
»Oh, ich bin kein bisschen müde. Wieso bist du so nervös?«
»Das bin ich nicht.«
»Soeben ist irgendwas in deinen Hals geflattert – an dieser Stelle.« Seine Fingerspitze berührte ihren Puls.
»Nicht…«, flüsterte sie und wollte zurücktreten. Aber es gelang ihr nicht.
Da ließ er seine Hand sinken. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Als ich dich in London küsste, warst du nicht so unsicher.«
»Das hätten wir nicht tun dürfen.«
»Du wolltest es.«
»Ja, weil ich leichtsinnig war.«
»Leichtsinnig?«
»Kennst du dieses Gefühl nicht?«
»Doch. Wie eigenartig – jetzt spüre ich es wieder.«
Langsam neigte er seinen Kopf hinab. Was er beabsichtigte, wusste sie – und sie hatte genügend Zeit, um ihn daran zu hindern. Bleischwer hingen ihre Arme hinab, und sie war unfähig, sich zu bewegen – zu atmen, irgendetwas zu tun, außer zu warten, bis…
Sein Mund, der sich auf ihren presste, besiegte den letzten Rest ihrer Selbstbeherrschung. Stöhnend schmiegte sie sich an Royces Brust, nahm die Hitze, die er ihr bot, wie ein Geschenk entgegen und gab sie ihm mit gleicher Glut zurück. Seine Nähe und der Geschmack seiner Lippen schienen sie ganz und gar auszufüllen. Seine muskulösen Schenkel drückten sich an ihre. Von seinen starken Armen umschlungen, war sie seiner verzehrenden Anziehungskraft hilflos ausgeliefert.
Aber sie musste ihm widerstehen. Daran erinnerte sie ihr Pflichtgefühl, das zunächst nur wie ein schwaches Feuer am Rand ihres Bewusstseins flackerte und schließlich die Ober hand gewann. Sie
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