Insel meiner Sehnsucht Roman
Palastmauern wider. Kassandra wartete, bis die Ehrengarden die Toten zwischen den schweigenden Menschen hindurch und zur Straße hinausgetragen hatten. Einige würde man auf dem Berg hinter Ilius verbrennen, die übrigen, die aus anderen Landesteilen stammten, zum Hafen bringen, an Bord ihrer Schiffe. Bald würden sie die Heimreise antreten.
Kassandra kehrte in den Palast zurück. Im kühlen Schatten der Mauern ließ ihre innere Anspannung ein wenig nach. Die Schultern gestrafft, verbarg sie ihre Müdigkeit. So viele Augen beobachteten sie.
Die fünf Ratsherren hatten sich bereits versammelt. Früher waren sie zu sechst gewesen. Aber nach Deilos' Verrat und seinem Verschwinden im Vorjahr hatte es dem Vanax widerstrebt, ihn zu ersetzen. Nur drei der fünf Männer genossen das rückhaltlose Vertrauen der Prinzessin, und sie verließ sich darauf, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen würden. Für die beiden anderen galt das nicht. Mellinos fing ihren Blick auf. Ernsthaft nickte er ihr zu. Er war fast sechzig, legte großen Wert auf seine äußere Erscheinung und hielt sich für einen unfehlbaren Wächter, der die akoranischen Tugenden und Traditionen bewahrte. Wenn er auch nicht offen gegen Atreus' Reformkurs protestierte, so erhob er doch bei jeder Gelegenheit Einwände und bekundete seine tiefe Sorge.
Neben ihm stand der jüngere Troizus, der aber wegen seines Doppelkinns und der ständig gerunzelten Stirn älter aussah. Stets bedachtsam und umsichtig, hatte er Atreus schon oft wertvolle Ratschläge erteilt. Im letzten Jahr hatte er eine Heirat einer seiner Töchter mit Deilos erwogen. Daraus war nichts geworden, was ihn zweifellos erleichterte. Ebenso wie Mellinos hatte er sich nicht auf Deilos Seite ziehen lassen – was aber keineswegs bedeutete, dass sie ihre reaktionären Anschauungen geändert hätten.
Durfte Kassandra den beiden trauen? Als sie verkündet hatte, sie würde bis zur Genesung ihres Bruders dessen Pflichten übernehmen, waren sie einverstanden gewesen. Aber nun wurde der Vanax zum ersten Mal in der akoranischen Geschichte von einer Frau vertreten. Das allein musste Mellinos zutiefst beunruhigen. Wie Troizus dachte, wusste sie nicht. Vielleicht würde der eine oder der andere sie hintergehen – oder beide. Und das könnte ihr sogar nützen.
Das Attentat auf Atreus war fehlgeschlagen – nicht nur, weil er immer noch lebte, sondern weil sich seine Schwester zwischen die Verräter und das Chaos gestellt hatte, das sie auf Akora entfesseln wollten. Indem sie offiziell die Regentschaft übernahm, machte sie sich zur Zielscheibe.
Zu einer Zielscheibe, die sie in aller Offenheit angreifen mussten – sollten sie es tatsächlich wagen …
Sie hatte nicht erkannt, welche Gefahr Atreus und somit auch Akora drohte. Jetzt würde sie nicht mehr versagen. Wer immer die Verräter sein mochten, die Atreides würde sie vernichten.
Dazu war sie fest entschlossen.
Um ihren Willen durchzusetzen, musste sie dafür sorgen, dass die wohlmeinenden Menschen in ihrer Nähe nichts von ihrer Absicht erfuhren – weder Joanna noch die Eltern, die verständlicherweise entsetzt wären. Noch wichtiger war es, Royce zu verheimlichen, was sie plante, denn er stellte die größte Herausforderung dar. Seine Stärke, mit ihrer vereint, könnte hilfreich und lebenswichtig sein. Aber er sah zu viel …
Selbst jetzt, als er etwas abseits stand und sich mit Joanna unterhielt, spürte Kassandra seinen prüfenden Blick. Sie nickte den beiden zu, ging aber nicht zu ihnen. Während der nächsten Stunde sprach sie mit den Ratsherren, dann widmete sie sich einem stetigen Besucherstrom. Mit jedem Einzelnen wechselte sie ein paar Worte, hörte sich an, welche Sorgen die Leute plagten, und dankte ihnen für die Hilfe, die sie ihr anboten. Es war eine anstrengende Audienz, aber nützlich und wichtig.
Endlich konnte sie sich zurückziehen. Ihr erster Weg führte in Atreus' Schlafzimmer, wo sie mit Elena sprach.
»Die starken körperlichen und seelischen Kräfte des Vanax kommen ihm nun zugute«, sagte die Heilkundige. »Allerdings lässt sich noch nicht feststellen, welchen Schaden er erlitten hat. Das werden wir erst herausfinden, wenn er aus seiner Ohnmacht erwacht.«
»Glauben Sie, er wird genesen?«, fragte Kassandra flehentlich.
»Ja, wenn er die nächsten paar Tage überlebt. Ob das bedeutet, dass er seine einstigen Fähigkeiten zurückgewinnen wird, weiß ich noch nicht.«
Der Gedanke, Atreus müsste ein Leben ohne
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