Insel meiner Sehnsucht Roman
den Vollbesitz seiner Kräfte führen, war zu schmerzlich. Damit wollte sich Kassandra vorerst nicht befassen.
Nachdem sie ein paar Worte mit ihren Eltern gewechselt hatte, die neben dem Bett saßen, verließ sie den Raum. Royce erwartete sie im Korridor, und sein Anblick erleichterte ihre Sorgenlast ein wenig – aber nur, bis sie sich an ihren Plan erinnerte, den sie ihm verschweigen musste, den Kampf gegen die Verräter.
»Wie geht es ihm?«, fragte er, während er sie zu ihrer Suite begleitete.
»Gleichbleibend. Soeben hat Elena mir erklärt, alles Weitere würde von den nächsten Tagen abhängen.«
»Du bist müde.«
»Ja …« Bei ihrem Gespräch mit der Heilkundigen hatte sie bereits gespürt, wie ihre letzten Kräfte entschwanden.
Und jetzt erforderte allein schon die Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ihre ganze Konzentration. »Es war ein langer Tag. Nun möchte ich mich kurz hinlegen.«
»Ein sehr vernünftiger Entschluss. Aber für heute solltest du deine Pflichten vergessen – du hast genug geleistet.«
Forschend warf sie ihm einen Seitenblick zu. Merkte er ihr an, womit sie sich in erster Linie beschäftigt hatte? Nein, seine Miene verriet nur sanfte Besorgnis.
»Danke …« Sekundenlang berührte sie seine Hand, bevor sie Zuflucht in der Einsamkeit ihrer Gemächer suchte.
Royce blieb im Flur stehen und betrachtete die Tür, die sich hinter Kassandra geschlossen hatte. Nun ließ sich der Zorn, den er so viele Stunden lang gezügelt hatte, nicht mehr verdrängen. Am vergangen Tag hatte sie ihm vertraut und ihn gebraucht – jetzt schaute sie ihm kaum noch in die Augen, und er erkannte instinktiv, dass irgendetwas nicht stimmte.
Gewiss, sie war übermüdet. Vielleicht vermochte sie nicht mehr klar zu denken. Allzu viel wollte er nicht in ihr Verhalten hineininterpretieren. Aber warum hatte sie die Ratsmitglieder zu sich beordert und dann nichts weiter getan, als ihnen Maßnahmen anzukündigen, die bereits getroffen wurden? Wieso fühlte sie sich dazu bemüßigt, obwohl sie damit die konservativeren Ratsherren provozieren würde?
Nach der Explosion hatte er eine ganz neue, starke, energische Kassandra kennen gelernt. Natürlich glaubte er nicht, sie würde irgendetwas unternehmen, ohne ein bestimmtes Ziel anzustreben.
Doch er konnte sich irren. Sie war in eine schreckliche Situation geraten. Und sie hatte völlig erschöpft gewirkt. Möglicherweise suchte er Hintergründe, die gar nicht existierten.
Oder seine Gedanken drehten sich im Kreis und führten nirgendwohin. Auch er war müde, trotzdem plante er keine Ruhepause. Stattdessen ging er auf die Suche nach Marcellus und fand ihn wie erwartet in dem Raum, wo das Beweismaterial verwahrt wurde.
»Offenbar ein gewöhnlicher, unscheinbarer Wagen…« Der Friedensrichter kniete am Boden, vor einem Schutthaufen. Als Royce eintrat, stand er auf. »Leider gibt es keinerlei Anhaltspunkte.«
»Wäre es denkbar, dass er gestohlen wurde?« Mit schmalen Augen inspizierte Royce verkohlte Holzstücke und Metallfragmente.
»Ja. Aber ein solcher Diebstahl wurde nicht gemeldet.«
»Und die Fässer?«
Marcellus zuckte die Achseln. »Einfach nur Fässer mit ein paar zerstörten Eisenreifen …« Er zeigte auf die ausgebreiteten Wrackteile. »Immerhin können wir mit Hilfe dieser Trümmer die Größe des Fahrzeugs abschätzen – und demzufolge auch die Anzahl der Fässer, die es zum Stadion transportiert hat. Etwa zwanzig.«
»Also zwanzig Fässer voller Schießpulver …«, sagte Royce langsam. »Eine ganze Menge.«
Der Friedensrichter nickte. »Entsprechend groß ist der Schaden.«
»Dann lautet die Frage, wer Zugang zu so viel Schießpulver hatte.«
»Was das betrifft, ziehe ich Erkundigungen ein.«
»Haben die Rebellen inzwischen irgendwelche Aussagen gemacht?«
»Meinen Sie die Anklagen wegen Vandalismus und Erregung öffentlichen Ärgernisses?« Seufzend schnitt Marcellus eine Grimasse. »Dabei kam nichts Brauchbares heraus. Sie behaupten, mit der Explosion hätten sie nichts zu tun, und sie regen sich furchtbar auf, weil sie dieses Verbrechens ver
dächtigt werden.«
»Verständlich – wenn sie unschuldig sind.«
»Wären sie für die Tragödie verantwortlich, würden sie das genauso bestreiten.«
»Das Schießpulver müsste uns auf die richtige Spur bringen.«
»Unglücklicherweise wird das einige Zeit dauern. So schwierig ist es nicht, an das Zeug heranzukommen.«
»Jeder, der Salpeter, Schwefel und Kohlenstoff besitzt,
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