Insel meiner Traeume
und der vielleicht zu seinem Tod geführt hatte? Aber was blieb ihr anderes übrig? Nach Hawkforte zurückzukehren, im Ungewissen über das Schicksal ihres Bruders - nein, diese Qual würde sie nicht ertragen.
Ohne noch länger zu überlegen, ging sie in den Salon an der Vorderseite des Hauses. Sie setzte sich an den Schreib-tisch mit den spindelförmigen Beinen, nahm Papier, das Tintenfass und eine Feder aus einem Schubfach. In knappen Worten schrieb sie nur das Nötigste nieder. Dann streute sie Sand auf den Brief und faltete ihn zusammen, steckte ihn in die Tasche ihres Kleids und kehrte nach oben zurück.
Den restlichen Tag, der sehr schnell verstrich, verbrachte sie in ihrem Zimmer - abgesehen von einer kurzen Exkursion auf den Dachboden, wo sie holte, was sie brauchte, um ihren Plan zu verwirklichen. Sie schlief ein wenig, danach saß sie am Fenster und starrte blicklos zur Straße hinab. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Hawkforte, den Park mit dem gepflegten Rasen, die alten Steinmauern der ursprünglichen Festung, um diese Jahreszeit von üppig blühendem Phlox, Veilchen, Gänseblümchen, Glockenblumen und Primeln umrahmt. Und hinter dem Gebäude lag das Meer. Sanft überspülten die Wellen den Kiesstrand, wo sie in ihrer Kindheit mit Royce gespielt hatte.
Nach dem Tod der Eltern war er nicht ins Internat Eton zurückgekehrt, sondern auf Hawkforte geblieben. Die Geschwister klammerten sich aneinander, und ganz langsam verebbte der Schmerz des schweren Verlustes. Royce setzte seine Studien in der Obhut von Hauslehrern fort, die auch Joanna unterrichteten. Als er nach Cambridge ging, beherrschte sie mehrere Sprachen und besaß umfassende mathematische Kenntnisse. Genauso viel verstand sie von der Haushaltsführung und wirtschaftlichen Angelegenheiten. Und so hatte der Bruder nicht gezögert, ihr das Landgut anzuvertrauen, statt einen Verwalter zu engagieren.
Bald würde auf Hawkforte die Heuernte beginnen. Joanna liebte jede Jahreszeit in ihrem ländlichen Zuhause, aber vor allem die Sommermonate, wenn die Natur ihre Fülle so großzügig verschenkte. Mühelos stellte sie sich die Sonnenwärme auf ihren Wangen vor, den Geruch frisch gemähter
Wiesen, den süßen Duft des Apfelweins, den man trank, um sich für die wohl gelungene Arbeit zu belohnen.
Joannas Herz sehnte sich nach ihrem wunderbaren Heim und seinem vertrauten Lebensrhythmus. Doch sie musste vorerst darauf verzichten. Solange sie nicht wusste, wie es Royce erging, würde sie nirgendwo Ruhe finden, nicht einmal in Hawkforte.
Allmählich sank die Abenddämmerung auf London herab, ließ die Konturen der Gebäude verschwimmen und kühlte die Tageshitze. Um diese Stunde hielten sich die meisten Menschen zu Hause auf. Entweder blieben sie daheim, oder sie trafen Vorbereitungen, um auszugehen.
Auf der Straße und in Joannas vier Wänden herrschte Stille. Sie stand auf und schlenderte zu ihrer emaillierten, mit Blumen bemalten, in eine Teakholzkommode eingelassenen Waschschüssel. Während des langen Nachmittags war das Wasser im Krug erkaltet. Doch das erschien ihr sehr angenehm. Sie bespritzte ihr Gesicht, um die Müdigkeit zu bekämpfen. Dann nahm sie die Kleidungsstücke, die sie vom Dachboden geholt hatte, aus einer hinteren Ecke des Schranks und zog sich um. Die Stiefel ließ sie zunächst stehen. Alles, was sie brauchen würde, packte sie in einen kleinen Beutel, den sie ohne Mühe tragen konnte. Jetzt musste sie nur noch warten, bis die Dunkelheit hereinbrach.
Sie schaute zur Uhr auf dem Kaminsims hinüber. Da die Gezeiten erst in ein paar Stunden wechseln würden, legte sie sich aufs Bett. Wenn sie auch viel zu nervös war, um sich auszuruhen, wollte sie’s wenigstens versuchen. Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, forderte die durchwachte Nacht ihren Tribut. Joanna versank in einen traumlosen Schlaf.
Irgendwann schreckte sie auf und sah sich verblüfft um. Silbernes Mondlicht erhellte den Raum, kaum verdunkelt von den dünnen Sommervorhängen. Im gleichen Augenblick schlug die Uhr zwölf Mal. Stöhnend sprang Joanna vom Bett auf und ergriff ihr Gepäck.
Welch ein verdammtes Pech! Womöglich würde sie sich verspäten. Trotzdem hielt sie lange genug inne, um den Brief, den sie am Nachmittag geschrieben hatte, auf ihr Kissen zu legen, bevor sie die Schlafzimmertür öffnete. Langsam und lautlos schlich sie die Treppe hinab.
In der Eingangshalle saß ein junger Lakai, das Kinn auf der Brust, und schlummerte friedlich. Jede Nacht musste
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