Insel meiner Traeume
Englisch, mit einem perfekten Akzent, den man normalerweise im vornehmen Londoner Mayfair hörte.
»Eh - ich - wirklich, es ist nicht nötig...«, stammelte Joanna.
»Oh doch!« Mit schnellen, anmutigen Schritten trat die junge Frau näher. »Seit so vielen Jahren möchte ich eine Engländerin kennen lernen. Wenn ich Sie schon in den ersten Minuten unserer Bekanntschaft gekränkt hätte, wäre ich untröstlich.«
Bei diesen Worten wirkte sie so aufrichtig, dass Joanna das Lächeln erwiderte. »Keine Bange, Sie haben mich nicht beleidigt, nur überrascht. Ich bin Lady Joanna Hawkforte.«
»Und Sie sind Engländerin?«
»Durch und durch.«
»Großartig! Das haben die Dienstboten behauptet. Aber ich konnte es kaum glauben. Oh, meine Manieren - ich bin Prinzessin Kassandra aus dem Haus der Atreiden.«
»Prinzessin...« Instinktiv begann Joanna zu knicksen. Daran wurde sie sofort von einer lachenden Kassandra gehindert, die ihre Schultern umfasste.
»Bitte - nicht! Wenn wir Frauen unter uns sind, legen wir keinen Wert auf solche Formalitäten. Die Männer benehmen sich viel steifer. Nun, wie die sind, wissen Sie ja.«
Zum Glück war das keine Frage, sondern eine Feststellung. Andernfalls hätte Joanna sich bemüßigt gefühlt zu entgegnen, davon habe sie keine Ahnung. Offenbar wurde keine Antwort erwartet, denn Kassandra fuhr fröhlich fort: »Falls Sie sich wundern - ich bin Alexandros’ Schwester -seine jüngere Schwester, was er bedauerlicherweise immer wieder betont. Und als würde das noch nicht genügen, nimmt mich Atreus genauso an die Kandare. Das ist unser Halbbruder. Von ganzem Herzen liebe ich die beiden. Nur eins missfällt mir - sie wollen mich unentwegt beschützen. Das übertreiben sie ein bisschen. Außerdem bilden sie sich ein, sie wüssten ganz genau, was am besten für mich ist.«
»Ich verstehe...«
»So lange wünsche ich mir schon, nach England zu reisen. Die ganze Welt möchte ich sehen - aber vor allem England. Von dort bringt Alexandros fabelhafte Bücher mit, und er erzählt mir interessante Geschichten. Zweifelsohne ist das nicht dasselbe, als würde ich hinfahren, oder? Wie gern würde ich durch Mayfair wandern, die schönen Läden in der Bond Street und Ackerman’s besuchen, bei Gunter’s Süßigkeiten kaufen, und so weiter. Auch die St. James’s würde ich entlangschlendern, obwohl Alexandros behauptet, das dürfte ich gar nicht, weil da all die Gentlemen’s Clubs liegen. Es wäre sogar unschicklich, wenn eine Dame in einer Kutsche dran vorbeifahren würde. Welch ein Unsinn! Oder sollte ich sagen - bombastischer Quatsch? Was die modernen Redewendungen betrifft, bemühe ich mich, auf dem Laufenden zu bleiben. Aus endlos weiter Ferne ist das aber leider nur schwer möglich.« Seufzend schüttelte Kassandra den Kopf. »Das alles erscheint mir so fremdartig und exotisch, so mysteriös. Und jetzt - wo ich eine Lady kennen lerne, die...« Als Joanna lachte, unterbrach sich die Prinzessin. »Oh, wahrscheinlich finden Sie mich albern.«
»Keineswegs«, beteuerte Joanna hastig. »Es ist nur - dieselben Worte würde ich benutzen, um Akora zu beschreiben. Fremdartig, exotisch, mysteriös. Für mich ist London eher gewöhnlich.«
Um Kassandras Begeisterung nicht zu dämpfen, verschwieg Joanna die zahlreichen Londoner Missstände. Im Gegensatz zu diesen Übeln wirkte Ilius zauberhaft schön und makellos.
»Gewiss, für Sie ist London nichts Besonderes, Lady Joanna, weil Sie eine Frau von Welt sind. Dort leben Sie, während ich...« Kassandra stöhnte, dann lächelte sie verlegen. »Jetzt rede ich wie ein unreifes Kind. Glauben Sie nicht, ich würde mich über mein Schicksal beklagen. Ich muss mich glücklich schätzen. Das weiß ich. Aber ich beneide Alexandros, denn er kann kommen und gehen, wie es ihm beliebt. Und ich muss hier bleiben.«
»Weil Sie eine Frau sind?«
»Allerdings, deshalb«, bestätigte die Prinzessin. Unsicher schaute sie Joanna an. »Was wissen Sie über die akoranische Gesellschaft? Ich meine, über die Stellung der Frauen - und alles andere? Hat Alexandros Ihnen einiges erklärt?«
Joannas Mundwinkel zuckten. Schon nach der kurzen Bekanntschaft mochte sie Kassandra. Die erfrischende Natürlichkeit des Mädchens fehlte den jungen Damen der Londoner Gesellschaft. Das war ihr aufgefallen, obwohl sie sich nur selten in diesen Kreisen bewegt hatte. Trotz ihres hohen Ranges war die Prinzessin kein bisschen affektiert. »Nun - er sagte, die Akoranerinnen müssten
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