Insel meiner Traeume
bevor Sie die Stadt erreichen, müssten Sie links abbiegen und zum Strand hinabgehen. Dieser Pfad ist steinig - und im Dunkeln gefährlich. Warten Sie doch, bis Prinz Alexandros Sie hinbringt.«
»Er ist jetzt dort, und ich will zu ihm«, erklärte Joanna ohne Umschweife.
»Oh nein, bitte...« Verwirrt runzelte Sida die Stirn. »Solche Anweisungen hat er nicht hinterlassen.«
»Für Sie vielleicht nicht«, erwiderte Joanna. »Trotzdem muss ich tun, was ich für richtig halte. Heute Nacht scheint der Mond sehr hell, und ich werde den Weg finden.«
Ehe Sida noch einmal versuchen konnte, sie zu entmutigen, lief Joanna aus dem Zimmer, die schmale Wendeltreppe hinab und durch die kleine Tür ins Freie hinaus. Diesmal folgte sie dem Pfad zur Stadt. Der Mond war hoch emporgestiegen. Trotz zarter Schleierwolken, die langsam an ihm vorbeiglitten, verströmte er so viel Licht, dass man ein Buch lesen könnte - oder auf Feldern arbeiten, wie es in Hawkforte stets geschah, wenn die Frühlings- und Erntemonde ihren Segen spendeten.
Bald gelangte Joanna zur Abzweigung nach links. Vorsichtig ging sie den schmalen Weg hinab, der nur aus flach getretenem Gras bestand. Sida hatte sie zu Recht gewarnt. Da und dort ragten Steine aus dem Boden, und Joanna musste aufpassen, um nicht zu straucheln. Unter ihren Füßen rollten immer wieder Kiesel davon und verlangsamten ihre Schritte. Ein paar Mal blieb sie stehen und lauschte den rauschenden Wellen, die den weißen Strand unterhalb des
Palasts überspülten. Durch die dunkle Fläche des Binnenmeers zog der Widerschein des Monds eine Silberstraße, die zu irgendeinem unsichtbaren Ziel führte.
Die Luft duftete nach Jasmin und Wildblumen. Jedes Mal wenn Joanna innehielt, glaubte sie immer noch ferne Flötenmusik zu hören. Aus welcher Richtung die Klänge zu ihr wehten, konnte sie nicht erkennen, denn sie schienen von überall und nirgendwo heranzukommen.
Voller Ungeduld eilte sie weiter. Einmal stürzte sie beinahe, ihr Herz schlug wie rasend. Und dann erreichte sie endlich den Strand. Während sie sich umschaute, sprang leise plätschernd ein Fisch aus dem Wasser. Ganz in der Nähe entdeckte sie einen schmalen Meeresarm, folgte ihm bis zu einer kleinen Anhöhe, und dahinter fand sie den Teich der Seufzer. Ja, das musste er sein. Genau so hatte sie ihn in ihrer Vision gesehen - Wasser, von innerem Licht erhellt. Als wäre der Mond darin ertrunken... Bei diesem Gedanken erschauderte sie.
Am Ufer des Teichs erblickte sie Alex. Er stand im Schatten, aber er war unverwechselbar. Erstaunt stellte sie fest, wie gut sie die Neigung seines Kopfs bereits kannte, die Form der breiten, von ebenholzschwarzem Haar berührten Schultern, die Art, wie er die Füße ein wenig spreizte, wenn er nachdachte. Und sie wusste auch, dass er ihre Anwesenheit spürte.
»Joanna...?« Durfte er seinen Augen trauen? Kurz zuvor hatte er irgendwie den Eindruck gewonnen, sie wäre in der Nähe. Und jetzt stieg sie tatsächlich zum Teich herab. War sie von seiner Sehnsucht hierher gelockt worden, die er so verzweifelt bekämpfte - die ihn von ihrer Seite getrieben hatte, trotz seines inbrünstigen Wunsches, bei ihr zu bleiben, sie zu trösten und zu beschützen? Dieses Verlangen hatte ihn hierher geführt, zu diesem Ort von über-irdischer Schönheit, wo er vergeblich inneren Frieden suchte.
Eigentlich müsste ihn Joannas Ankunft überraschen. Doch so war es nicht. Über Stunden und Tage hinweg, schon seit der Begegnung an Bord der Nestor, hatte er ein Gefühl der Unausweichlichkeit empfunden, das er nicht länger verleugnen konnte.
In ihrem schwingenden dunkelblauen Umhang kam sie auf ihn zu, das Gesicht von Mondstrahlen versilbert. »Sida hat mir von diesem Teich erzählt.«
»Wieso wusstest du, dass ich hier bin?«
»Weil ich dich sah...« Hastig fügte sie hinzu: »Ja, ich weiß - es klingt unglaublich, und ich vermag es selber kaum zu glauben. Ich suche Royce und finde dich. Welchen Sinn ergibt das?« Sie unterbrach sich verwirrt. »Darauf kommt es nicht an... Sida erwähnte, dies sei der Teich der Seufzer. Wird er so genannt, weil die Menschen angesichts seiner Schönheit seufzen?«
Sie hatte ihn gefunden? So eng waren sie miteinander verbunden? Heiße Freude erfüllte ihn, wenn er sich auch eingestand, dass ihn ihre seherischen Fähigkeiten beunruhigten. Anderseits wusste er Bescheid über die magische Macht der Frauen, und die musste in Joanna besonders ausgeprägt sein.
»Nein«, beantwortete er
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