Insel meines Herzens
sprechen.
Etwas später kam Marcus ins Krankenzimmer. Bedrückt musterte er seinen jüngsten Sohn. »So viel hätte ich dir zu sagen, Polonus. Aber mir fehlen die Worte.«
»Tut mir Leid, Vater...«
»Wenigstens ein Anfang. Brianna, wie mir deine Tante Elena erklärt hat, brauchst du viel Ruhe.«
»Keine Bange, ich habe lange genug geschlafen. Jetzt muss ich etwas anderes tun.« Wenn sie auch nicht wusste, was...
»Die Ratssitzung dauert immer noch an«, berichtete Marcus. »Dabei geht es um das Strafmaß, das der Vanax verhängen wird. Es gibt gewisse Spekulationen. Aber bis jetzt konnten wir nichts Genaueres erfahren.«
»Was immer der Vanax entscheiden mag – er wird ein gerechtes Urteil fällen.« In Polonus’ Stimme schwang keine Angst mit. Offensichtlich würde er sein Schicksal klaglos hinnehmen.
»Jetzt müsste er schlafen«, mahnte Elena, doch sie scheuchte die Besucher nicht aus dem Zimmer.
Während Marcus und Leoni bei ihrem Sohn blieben, bis er einschlief, wanderte Brianna in den Garten, wo Atreus sie an jenem frühen Abend gefunden hatte. Waren seither erst zwei Tage verstrichen? Wie eine halbe Ewigkeit kam es ihr vor.
Trotz des Sonnenscheins und des fröhlichen Vogelgezwitschers hielt sie sich nur ein paar Minuten in der idyllischen Umgebung auf. Die friedliche Schönheit des kleinen Gartens zerrte an ihren Nerven. Und so folgte sie der gewundenen Straße, die vom Palast nach unten führte. Ringsum gingen die Leute ihren normalen Geschäften nach. Hausfrauen pflegten ihre Gärten, den Stolz ihres Heims, fegten Gehsteige, klopften Teppiche, betreuten die Kinder, die noch klein genug waren, um an ihren Rockzipfeln zu hängen, und plauderten miteinander. Neben der Hausarbeit boten manche Frauen auch verschiedene Waren auf Marktständen feil. Einige erkannten in Brianna eine Bewohnerin des Palastes und nickten ihr freundlich zu. Lächelnd erwiderte sie die Grüße, doch sie hielt nirgendwo inne. In ihrer gegenwärtigen Verfassung wäre sie keine gute Gesellschafterin.
Als sie den Hafen erreichte, schlenderte sie eine leere steinerne Landebrücke entlang, die Flechten und Rankenfußkrebse überwucherten. Am Ende, das weit ins Wasser hinausragte, setzte sie sich, ließ die Beine hinabbaumeln und starrte über das Binnenmeer hinweg.
In ihrer Fantasie sah sie Leios, die Insel der grünen Ebenen, sechzehn Jahre lang ihre Heimat – immer noch?
Darüber dachte sie nach und fand die Antwort schon nach kurzer Zeit. Nur in der Erinnerung eine Heimat... Dort würde sie keinen inneren Frieden mehr finden. Und doch – Leios war ihr teuer, so wie ganz Akora. Trotz allem, was sich ereignet hatte, liebte sie dieses Land.
Und Atreus?
Vor dieser Frage schreckte sie zurück. Damit wollte sie sich jetzt nicht befassen. Sonst würde immer wieder Deilos’ höhnische Stimme in ihren Ohren dröhnen.
Er brachte Ihre Eltern um, süße Brianna ...
Süß war sie gewiss nicht, sondern tapfer und stark. Das hatte ihr die akoranische Mutter versichert. Hoffentlich würde Leoni Recht behalten, denn gerade jetzt brauchte Brianna beides so dringend – Mut und Kraft.
In der Ferne sah sie den Mast eines Schiffes mit vergoldeten Stierhörnern, dessen Bug das Binnenmeer durchpflügte. Es war zu weit entfernt, und so konnte sie es nicht genau feststellen – aber sie glaubte, es würde die südliche Meeresstraße ansteuern. In welcher Mission? Akora verfolgte, wenn auch möglichst unauffällig, weit verzweigte Interessen. Nahm das Schiff Kurs auf Europa oder Amerika? Asien oder Afrika? Oder gehörte es einfach nur zu den zahlreichen Patrouillenschiffen, die das befestigte Königreich schützten?
Vor eitlen französischen Admiralen, die nach Ruhmeslorbeeren strebten...
Zum Zeitpunkt der Tragödie war Atreus fünfzehn Jahre alt gewesen. Das hatte sie schon zuvor errechnet, aber bis jetzt nicht gründlich genug überdacht.
Fünfzehn.
Mit fünfzehn hatte sie Leoni bei der Hausarbeit und Marcus im Stall geholfen. Im Sommer jenes Jahres war das Fohlen ihrer Lieblingsstute zur Welt gekommen. Jedes Rennen auf Leios hatte es gewonnen – und einmal den goldenen Pokal bei dem Wettkampf, der jeden Herbst in Ilius stattfand. An diesem Ereignis hatte Brianna nicht teilgenommen, obwohl es ein sehnlicher Wunsch gewesen war. Der Meeressturm, an den sie sich zu erinnern glaubte, und ihre damit verbundenen Schuldgefühle hatten sie an einer Schiffsreise gehindert.
Fünfzehn... Langwierige Kämpfe mit der Geometrie, philosophische
Weitere Kostenlose Bücher