Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
weder Scheunen noch anständige Pferche gebaut. Nach einem so langen Winter hatten wir kaum noch gepökeltes Fleisch und keinerlei Aussicht auf frisches, und so wurde das Fischen und Sammeln von allerhand Essbarem – darunter vor allem Muscheln – unser Hauptauskommen.
Da das Muschelsammeln keine sehr angesehene Tätigkeit war, sorgte Makepeace dafür, dass diese Aufgabe mir zufiel, denn er war der Älteste und, nach Zuriels Tod, auch der einzige Sohn und pochte gern auf seine Rechte. Wenn das nicht genügte, um sich vor einer ungeliebten Aufgabe drücken zu können, verwies er auf die großen Anforderungen, die die Schule an ihn stellte, eine Bürde, die, wie er sagte, »meine Schwester nicht tragen muss«. Diese letzte Bemerkung wurmte mich besonders, denn ich sehnte mich nach dem Unterricht, den Makepeace so beschwerlich fand, und das wusste er.
Wenn es ans Muschelsammeln ging, erlaubte mir Vater, unsere Stute Speckle zu nehmen, denn die besten Muschelgründe lagen weit draußen im Westen. Ich sollte zu meiner Tante Hannah reiten, die mich begleiten würde, denn es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass ich mich allein nicht mehr als eine Meile von unserer Siedlung entfernen durfte, ob nun zu Pferd oder zu Fuß. Doch meine Tante war durch all ihre anderen Aufgaben meist so überlastet, dass sie eines Tages, als zum ersten Mal seit langem ein laues, mildes Lüftchen meine Wangen streichelte, mehr als froh war, als ich mich anbot, Muscheln für sie mitzusammeln. Das war das erste Mal, dass ich das Gebot des Gehorsams brach, denn ich suchte mir keine andere Begleitung, wie sie mich gebeten hatte, sondern ritt auf einem neuen Weg alleine davon. Es war nicht leicht, immer unter Beobachtung zu stehen und nur das zu tun, was der Tochter des Pfarrers eben geziemte. Und so raffte ich, kaum hatte ich die Grenze unserer Siedlung erreicht, meine Röcke und galoppierte los, so schnell Speckle mich tragen wollte, einfach nur, um frei und ungebunden und allein zu sein.
Ich hatte die schöne, große Heide lieben gelernt, die dichten Wälder und die weiten, von Dünen geschützten Wasserflächen, wo ich ganz für mich war und mich frei fühlen konnte. Und so versuchte ich, jeden Tag ein wenig draußen zu sein, bis auf den Sabbat, den wir streng nach der Regel betend verbrachten, da mein Vater die Gebote genauestens befolgte – am siebten Tage sollt ihr ruhen – und nur den Besuch im Gemeindehaus, nicht aber die Erledigung anderer Aufgaben duldete.
So oft ich konnte, versteckte ich eines der Lateinbücher von Makepeace in meinem Korb, entweder seine Formenlehre, die er schon längst hätte auswendig können müssen, seinen Thesaurus oder die Sententiae Pueriles. Wenn es mir nicht gelang, eines dieser Bücher unbemerkt an mich zu nehmen, holte ich mir einen von Vaters Texten, in der Hoffnung, ihn halbwegs verstehen zu können. Abgesehen von der Bibel und den Märtyrer-Viten von Foxe stand Vater auf dem Standpunkt, für ein junges Mädchen sei es nicht erstrebenswert, allzu viel Zeit mit Lesen zu verbringen. Als mein Bruder Zuriel noch lebte, hatte Vater uns beide im Lesen unterrichtet. Für mich waren das schöne Zeiten gewesen, doch sie waren am Tage von Zuriels Unfall zu einem abrupten Ende gekommen. Damals hatten wir beide ein paar Stunden über unseren Büchern verbracht, und da Vater mit unseren Fortschritten zufrieden war, belohnte er uns mit einer Fahrt auf dem Heuwagen. Es war ein schöner Abend, und Zuriel war übermütiger Stimmung, zupfte Halme aus den Heuballen und kitzelte mich damit am Kragen. Ich wand mich und lachte fröhlich. In jenem Augenblick, als ich nach hinten griff, um einen juckenden Halm aus meinem Kleid zu ziehen, konnte ich nicht sehen, wie Zuriel auf dem Ballen das Gleichgewicht verlor, und konnte folglich auch nicht meinen Vater warnen, der den Wagen lenkte und uns den Rücken zukehrte. Noch bevor wir Zuriels Sturz bemerkten, war ihm der Wagen mit dem rechten Hinterrad, das aus Eisen war, über das Bein gefahren und hatte es bis auf den Knochen durchtrennt. Vater versuchte nach Kräften, die Blutung zu stillen, wobei er unablässig laut betete. Ich hielt Zuriels Kopf in meinen Händen, schaute in sein geliebtes Gesicht hinab und flehte ihn an, bei uns zu bleiben, doch es half nichts. Zuriel verblutete, und ich musste mit ansehen, wie er sein Leben aushauchte und langsam das Licht in seinen Augen erlosch.
Das war zur Erntezeit geschehen. Den ganzen Herbst und Winter hindurch taten wir nichts
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