Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
wütend. »Genug! Stolz ist eine Sünde, Schwester. Sei dir dessen bewusst. Denk daran, dass auch ein Vogel Laute nachahmen kann. Du kannst einen Spruch aufsagen: Na und? Denn genau in dem Moment zeigst du, dass du nichts von dem begriffen hast, was du da nachplapperst. Mit deinem Lärm bringst du die Stimme Gottes zum Verstummen. Lass Ruhe in deinen Verstand einkehren. Öffne dein Herz. Und schon bald wirst du deinen Irrtum einsehen.«
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging ins Haus zurück. Vater folgte ihm. Beide waren sie an jenem Tage wütend, doch nicht so wütend wie ich. Ich war so zerfressen von meinem Zorn, dass ich beim Buttermachen den Griff zerbrach, weil ich so fest damit stampfte. An meiner Hand ist bis heute die Narbe von den Holzsplittern zu sehen, die sich in mein Fleisch bohrten. Mutter verband mir die Hand und gab eine Salbe darauf. Als ich in ihre lieben, müden Augen blickte, schämte ich mich. Nicht um alles in der Welt hätte ich sie in dem Glauben wissen wollen, ich würde sie verachten, ob nun in Gedanken oder Worten. Und als hätte sie meine Gedanken gelesen, lächelte sie mich an und führte meine verbundene Hand an ihre Lippen. »Gott tut alles aus gutem Grunde, Bethia. Wenn er dir einen flinken Verstand geschenkt hat, dann will er ganz sicher auch, dass du ihn benutzt. Es ist deine Aufgabe zu entscheiden, wie du ihn einsetzen kannst, um seinen Ruhm zu mehren.« Die Worte: »… und nicht nur deinen eigenen« brauchte sie nicht hinzuzufügen, denn ich hörte sie laut und deutlich in meinem Herzen.
Aber ich verstand die Worte meiner Mutter als stillschweigendes Einverständnis, in meinen Studien insgeheim fortzufahren. Wenn das nun allein und ohne Unterstützung vonstatten gehen musste, umso schlimmer. Doch lernen wollte ich, bis mir vor Anstrengung die Augen tränen würden. Ich konnte einfach nicht anders.
Damit will ich gar nicht sagen, dass ich all meine dem Alltag abgerungenen Stunden über Büchern verbracht hätte. Ich lernte auch auf andere Weise. Mir fiel ein, was Vater bezüglich Kräuterheilkunde gesagt hatte, und ich begann, Goody Branch und andere Frauen, die in solchen Dingen kundig waren, danach zu fragen. Es gab eine ungeheure Menge an Wissen, nicht nur die jahrhundertelang überlieferten Kenntnisse über englische Kräuter, sondern auch über den Gebrauch unbekannter Wurzeln und Blätter aus unserer neuen Heimat. Goody Branch hatte mich gerne an ihrer Seite, wenn sie Pflanzen sammelte und daraus ihre Tränke braute. Auch erzählte sie mir alles darüber, wie ein Kind entsteht und im Bauch der Mutter heranwächst. Sie sagte, jede Frau solle klug und weise sein, wenn es um die Belange ihres Körpers gehe. Manchmal nahm sie mich zu einer Frau in der Nachbarschaft mit, die guter Hoffnung war. Wenn die Frau nichts dagegen hatte, ließ sie mich die Hände auf den geschwollenen Leib legen und zeigte mir, wie man den Umriss des kleinen Wesens ertasten konnte, das darin heranwuchs. Sie brachte mir bei, wie man aus seiner Größe die genaue Anzahl der Wochen bis zur Niederkunft errechnen konnte, damit sie sich bereithalten konnte, wenn man sie als Hebamme zur Geburt rief. Ich stellte mich recht geschickt an und schätzte mehrere Geburten bis auf die Woche genau ein. Sobald ich älter sei, sagte Goody Branch, würde sie mich vielleicht auch einmal als ihre Helferin an einer Geburt teilnehmen lassen.
Wenn die Fischerboote hinausfuhren, erbettelte ich mir oft einen Platz an Bord, um auch die weiter entlegenen Teile der Insel besser kennenzulernen, wo sogar das Wetter anders war als in Great Harbor, obwohl man sich nur wenige Meilen davon entfernt hatte. Auch die Pflanzen unterschieden sich, und wenn wir an Land gingen, sammelte ich ein, was ich konnte, um es zu untersuchen. Goody Branch meinte, wir müssten zu Gott beten, dass er uns seine Handschrift lesen lasse, die für die Frommen klar zu erkennen sei und oft deutliche Hinweise gebe, so wie zum Beispiel beim Leberblümchen, das schon mit der typischen Form seiner Blätter darauf hindeute, welche Leiden damit kuriert werden können.
Es gab auch andere Tage, an denen ich weder Goody Branch noch sonst jemanden aufsuchte, sondern einfach nur umherstreifte und versuchte, in den Erscheinungsformen der Insel zu lesen wie in einem Text, wobei ich immer wieder bei einer Pflanze oder einem Stein verweilte, um zu erraten, welche Botschaft sich darin für mich verbarg. An solchen Tagen vermisste ich Zuriel am meisten. Ich sehnte mich
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