Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
Liebes. Ich weiß, dass das hier eine große Lebensumstellung für dich ist. Aber du musst vor Master Corlett keine Angst haben. Niemand hier will dir etwas Böses.«
Sie erwiderte nichts, sondern senkte nur den Blick und schüttelte ein weiteres Mal den Kopf, und so ließ ich die Sache auf sich beruhen. Es würde nichts bringen, sie zu bedrängen, so eingeschüchtert und verängstigt, wie sie war. Da ich mich wieder meinen Aufgaben zuwenden musste, begann ich nun, Rüben für den Eintopf zu schälen, und dachte über dieses Kind nach, das seinem Volk entrissen worden und in so unziemlichen Verhältnissen gelandet war. Gewiss hatte der Pelzhändler ihr zu essen gegeben und sie unterrichtet. Vielleicht war er ein gottesfürchtiger Mann gewesen, der ein Kind aus einer von Krankheit heimgesuchten Umgebung retten wollte und sie mit väterlicher Freundlichkeit aufzog. Doch ihre Furchtsamkeit schien darauf hinzudeuten, dass er ihr nicht nur mit der Zuneigung eines Vaters begegnet war.
Sie stand auf und machte Anstalten, mir zu helfen, doch ich legte eine Hand auf die ihre und nahm ihr das Messer ab, zu dem sie gegriffen hatte, und legte es auf den Tisch. »Nein, Anne. Du gehst hier zur Schule und bist keine Dienstbotin. Deiner Stellung hier musst du dir von Anfang an bewusst sein, und du sollst auch auf das bestehen, was dir gebührt, denn ganz sicher wird es so manchen geben, der nur allzu froh sein wird, dich demütigen und herabsetzen zu können.« Ich ging ins Arbeitszimmer des Masters, holte den Cicero vom Regal und legte ihn vor ihr auf den Tisch. »Kannst du das lesen?« Sie nickte. »Wenn du magst, lies mir laut daraus vor, und wenn ich höre, dass du etwas falsch betonst, werde ich dich, soweit ich kann, korrigieren, obwohl ich es ebenso wie du nur aus Büchern gelernt habe. Ich muss gestehen, dass ich selber auch nicht nach allen Regeln der Kunst in Latein unterrichtet wurde und nur ab und zu die Lektionen meines Bruders belauscht habe.«
Sie las nahezu ohne Zögern, und der winzige Akzent ihrer Nipmuc-Sprache ließ das Ganze eher noch weicher und ansprechender klingen. Das hörte auch Master Corlett, als er irgendwann später zu uns trat. Zuerst bemerkte sie ihn gar nicht, weil er in der Tür stehen blieb, und so las sie weiter, bis sie schließlich am Ende eines Satzes angekommen war und er ein herzliches: »Gut gemacht, ja wirklich! Bemerkenswert!«, rief.
Sie fuhr zusammen, schaute ihn an und wandte dann gleich wieder den Blick ab. Jetzt begann sie erneut zu zittern.
»Nun denn«, sagte er und rieb sich etwas unentschlossen die Hände. »Ihr scheint ja einen guten Anfang gefunden zu haben. Macht einfach weiter so, und ich sehe dich nach dem Mittagessen in meinem Arbeitszimmer. Dann können wir genauer besprechen, wie es weitergehen soll.« Er drehte sich um und sagte nach einem kurzen Zögern. »Bethia, ich denke, es ist am besten, wenn Anne ihr Mahl hier bei dir einnimmt. Die Vorstellung bei den anderen Schülern kann noch warten. Bei diesen Dingen ist keine Eile angebracht.«
»Sehr wohl, Master Corlett. Ich werde mich darum kümmern.«
Anne rührte ihre Brühe und das Brot kaum an, während ich emsig damit beschäftigt war, das Essen für die anderen Schüler herzurichten und ihre Essschalen zu säubern. Als es Zeit für Annas Unterredung mit dem Master war, schien sie nur mit der allergrößten Willenskraft vom Tisch aufzustehen. »Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte ich. Sie griff nach meiner Hand. »Na gut«, sagte ich. »Aber nur heute. Ich habe zu dieser Stunde eine Menge Arbeit zu erledigen, und wie ich dir bereits gesagt habe, hast du von Master Corlett nichts zu befürchten.«
Ich hätte nicht zu sagen vermocht, wer von den beiden an jenem Tag schüchterner und unbeholfener war. Die umständliche Sprechweise des Masters war schlimmer, als ich sie je erlebt hatte, und Annas Stimme war kaum zu hören, als sie sich durch die Textpassage arbeitete, die er für sie ausgesucht hatte. Jedes Mal, wenn er sie korrigierte, zuckte sie zusammen, als hätte man sie geschlagen. Ich brannte darauf, zu erfahren, was das Mädchen in einen solchen Zustand gebracht hatte, der weit über ein natürliches Maß an Schüchternheit angesichts der neuen Situation hinausging. Andererseits: Sollte die Antwort auf meine Frage die sein, die ich befürchtete, dann wollte ich es lieber gar nicht wissen.
Mein Eindruck verstärkte sich noch, nachdem ich die allererste Nacht neben Anne geschlafen hatte. Vielleicht
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