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Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Insel zweier Welten: Roman (German Edition)

Titel: Insel zweier Welten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Geraldine Brooks
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die dunklen, knochigen Äste. »Diese Bäume hier«, sinnierte er, »sind schon fast so alt wie die Kolonie. Das dürfte rund ein Vierteljahrhundert sein. Wusstest du, Bethia, dass diese Bäume im Schweiße des Angesichts der allerersten Klasse hier in Harvard gepflanzt wurden? Es heißt, Master Eaton habe sie in Rechnung gestellt, als seien Arbeiter aus dem Ort dafür bezahlt worden, und er habe dann das Geld in die eigene Börse gesteckt.«
    Ich erinnerte mich dunkel an diesen lange zurückliegenden Skandal, denn es gehörte zu Großvaters liebsten Scherzen bei Tisch, zu bemerken, er sei heilfroh, dass Mistress Eaton nicht seine Köchin sei. Sie war damals vor Gericht gestellt worden, weil sie den Schülern eine Grütze aus Ziegendung und Makrelen, die nicht einmal vorher ausgenommen waren, vorgesetzt hatte. Großvater las gern über die Fälle, die damals vor Gericht gekommen waren, und dieser gefiel ihm besonders.
    »So ein liederlicher Mensch«, fuhr mein Bruder fort. »Und dennoch wurde er für einen Posten ausersehen, den die lebenden Heiligen der Kolonie für unabdingbar hielten. Daraus könnte man lernen, dass niemand außer Gott ein richtiges Urteil über den wahren Zustand der Seele eines Menschen fällen kann.«
    Ich war mir sicher, dass er mich nicht hierhergebracht hatte, um mir seine spirituellen Gedankengänge darzulegen, doch da er irgendwie niedergeschlagen wirkte, versuchte ich, ihn ein wenig aufzumuntern. »Vielleicht kannst du ja eines Tages eine Predigt darüber schreiben.« Doch offenbar hätte ich zu dem Thema nichts Unpassenderes sagen können. Seine Augen füllten sich mit Tränen, er wandte sich ab und legte kummervoll die Stirn an den vereisten Baumstamm. Ich strich ihm mit der behandschuhten Hand über den Rücken. »Was ist denn, Bruder? Was bekümmert dich denn so?«
    »Ich kann es nicht, Bethia. Das ist mir jetzt klar geworden. Auf der Insel, allein mit Vater, konnte ich mir einreden, dass meine Fähigkeiten, wenn auch weniger als gewünscht, so doch ausreichen würden. Selbst als dir so leichtfiel, was mich solche Mühe kostete, und als dann dieser junge Heide … Und doch … habe ich mich getäuscht. Ich dachte, mit emsiger Arbeit meine Mängel ausgleichen zu können und weiterzukommen, so wie es auch jeder andere um mich herum schafft. Makepeace, sagte ich mir selbst, in Cambridge wird es dir an nichts fehlen. Es wird andere geben, deren Geist noch langsamer arbeitet. Doch das ist nicht so. Obwohl ich der Älteste hier bin, gelte ich im Allgemeinen als der schwächste Schüler von allen.«
    Er hob den Kopf. In seiner Stirn hatten sich deutlich die Linien der rauen Borke eingegraben. »Und dann kommt jetzt auch noch diese squa, und ich höre, wie sie dir vorliest, und selbst ihr, einer Wilden, die es sich selbst beigebracht hat, gelingt mit der größten Leichtigkeit, was ich nicht unter gewaltiger Anstrengung schaffe.« Er gab ein trockenes und freudloses Lachen von sich. »Und doch kann ich von Glück sagen, dass Master Corlett nicht Master Eaton ist, denn sonst würde ich jeden Tag eine ordentliche Tracht Prügel bekommen, so sehr bin ich mit meinen Lektionen im Rückstand.«
    »Aber Makepeace«, sagte ich und verspürte dabei eine Zärtlichkeit, die ganz ungewohnt für mich war. Ich strich ihm über die Stirn. »Gewiss verzweifelt Master Corlett doch nicht an dir, oder? Hat er denn mit dir gesprochen?« Er schüttelte den Kopf. »Nein? Dann darfst auch du nicht an dir zweifeln. Du hast dich bemüht, ja, und durch diese Mühen bist du weit gekommen …« Ich wusste, dass das der Wahrheit entsprach, und sagte es nicht nur, um ihn zu trösten. »Das musst du doch wissen. Du musst doch sehen, was für Fortschritte du gemacht hast. Für mich, die dich in all diesen Monaten und Jahren beobachtet hat, liegt es auf der Hand.«
    »Es wird nicht reichen! Wenn jemand mir etwas erklärt, versteh ich gerade genug davon, um es mir mit einiger Mühe einzubläuen und dann bei Gelegenheit wieder aufsagen zu können. Doch wenn ich Bücher lese, so verstehe ich oft überhaupt nicht, was darin steht. Englische Bücher und Latein sind schon schwierig genug. Aber Hebräisch, Griechisch – die Buchstaben verschwimmen mir vor den Augen, und ich kann sie einfach nicht … Ich werde nie …« Er streckte die Hand aus, packte einen der knospenden Zweige und fuchtelte damit vor mir herum. »Siehst du? Der Frühling ist schon fast da. Und im Sommer ist die Prüfung. Ich werde sie nicht

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