Insel zweier Welten: Roman (German Edition)
ein Mädchen unterrichtet – selbst meine eigene Tochter hatte eine Hauslehrerin. Das habe ich auch dem Gouverneur gesagt, der sie jedoch trotzdem hier haben will. Er wolle sichergehen, sagt er, dass ihre geistigen Fähigkeiten ebenso genau eingeschätzt werden wie die anderer Schüler, damit keinerlei Zweifel daran aufkommen können. Alles gut und schön, wenn er sich dies nun mal in den Kopf gesetzt hat. Aber was soll ich mit einem Indianermädchen anfangen? Ich kann sie wohl kaum bei den anderen im Klassenzimmer dulden … Was für einen Aufruhr das geben würde … nein. Das ist ausgeschlossen. Ich bin wirklich vollkommen ratlos, wie ich verfahren soll. Dabei wird sie in vierzehn Tagen bereits hier sein.«
»Kann sie denn nicht in der Stadt untergebracht und von Euch privat unterrichtet werden?«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Aber dann würden wir nicht in den Genuss ihres Stipendiums kommen. Wie du weißt, ist der Mangel bei uns groß, und das Stipendium ist, wie ich sagte, ungewöhnlich großzügig … Ich würde dich nur ungern bitten … wo du doch sowieso weit unter deinem Stand untergebracht bist … ob du eine Bettgenossin bei dir aufnehmen könntest … aber ich sehe keine andere Möglichkeit …«
Unmut wallte in mir auf. Nur wenn ich des Nachts mein Haupt niederlegte, konnte ich etwas Frieden erlangen, und so war ich eigentlich nicht geneigt, diesen Hauch von Privatheit der erzwungenen Nähe zu einer Fremden zu opfern. Andererseits war bereits meine Neugier entflammt, mehr über dieses Mädchen zu erfahren.
Ein paar Tage später brachte man Anne in der Kutsche des Gouverneurs zu uns. Sie war groß für ihr geschätztes Alter, schlank und hatte dickes schwarzes Haar, das zu einem straffen Zopf geflochten, aber nicht aufgesteckt war, sondern unter ihrer Haube hervorlugte und bis fast zu ihrer Leibesmitte hinabhing. Sie trug einen Mantel aus gutem grauem Kammgarn – importiert, nicht hausgesponnen –, wie ihn wohl auch die Tochter des Gouverneurs getragen hätte. Ihre Haube hatte sie mit einer Falte weit in die Stirn gezogen, sodass von ihrem Gesicht vorerst nicht viel zu sehen war. Sie betrat das Haus mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenem Blick, den sie auch nicht hob, als Master Corlett sie in sein Arbeitszimmer führte und mich ebenfalls hereinwinkte. Ich schloss die Tür, weil ich gemerkt hatte, dass in dem Klassenzimmer auf der anderen Seite des Flurs plötzlich eine ungewohnte Stille herrschte und alle Blicke auf den Eingang gerichtet waren, um die Ankunft des ungewöhnlichen neuen Schülers zu beobachten.
Erst als der Master sie mir vorstellte, blinzelten die dunklen, mit schweren Wimpern bekränzten Augen kurz, und sie hob den Kopf und schaute mich einen Moment lang an, bevor sie das Kinn wieder senkte. Ihre Haut war so dunkelbraun und glatt wie eine Kastanie und spannte sich straff über die hohen Wangenknochen, die bei ihrem Volk so weit verbreitet sind. Doch ihre Augen waren sehr ungewöhnlich, von tiefem, leuchtendem Grün, wie Moos nach einem Regenguss. Bei ihrem Volk hatte ich noch nie jemanden mit einer solchen Augenfarbe gesehen. Sie hatte die Hände vor dem Leib gefaltet, und ich bemerkte, wie weiß sich die Knöchel von ihrer dunkelbraunen Haut abhoben. Offenbar gab sie sich alle Mühe, ein leichtes Zittern zu verbergen. Das Mädchen hatte Angst. Ich grüßte sie in sanftem, freundlichem Ton. Dann schaute ich Master Corlett mit bedeutungsvollem Blick an. »Vielleicht kann Eure Befragung noch ein wenig warten? Darf ich Anne zu einer kleinen Vesper mit in die Küche nehmen?« Master Corlett wischte sich über die Stirn, die trotz der Kälte mit Schweißperlen bedeckt war. »Sehr gut, sehr gut«, sagte er und kehrte, offenbar sehr erleichtert, in das mit Jungen gefüllte Klassenzimmer zurück, in dem er sich bestimmt wesentlich heimischer fühlte.
Ich führte Anne in die Küche und erklärte ihr, dass sie dort mit mir mein Lager teilen würde. Ein Seufzen entfuhr ihrer schmalen Brust. Zuerst dachte ich, die Idee stoße sie ab, weil ich davon ausging, dass sie im Hause des Gouverneurs wesentlich besser untergebracht gewesen war. Doch dann blickte ich in ihr Gesicht und sah, dass der angespannte Ausdruck darin sich gelöst hatte. Sie stand da, wartete auf Anweisungen, und so forderte ich sie auf, sich zu setzen und fragte sie, ob sie etwas essen wolle. Sie schüttelte den Kopf. Immer noch saß sie steif auf dem Stuhl, als hätte sie einen Stock verschluckt. Ich goss ihr
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