Inselglück
Gefühl verstärkte den Groll darüber, dass sie, Connie, den weiten Weg von Bethesda nach New York auf sich genommen hatte, um Meredith und das Baby zu sehen, während Meredith sie zwei Jahre zuvor nach Ashlyns Geburt nicht im Krankenhaus besucht hatte. Es war erstaunlich, welche Erinnerungen Connie plötzlich überfielen. Erstaunlich, dass in ihrem Gedächtnis die guten und die schlechten Aspekte jeder Interaktion ineinander verwirbelt waren wie Farben auf einer Palette. Meredith erinnerte sich vielleicht nur an die Freude darüber, dass Connie gekommen war, oder an den niedlichen Strampelanzug, den sie mitgebracht hatte. Oder sie dachte bei dem Gedanken an Leos Geburt bloß: Gegen Leo wird ermittelt.
Connie bog in ihre Einfahrt ab und parkte vor dem Haus. Meredith griff nach den Einkaufstüten.
»Du gehst rein und entspannst dich«, sagte sie. »Um die kümmere ich mich.«
Connie lachte. »Du bist doch hier nicht das Dienstmädchen. Aber danke für die Hilfe.«
Wieder stand ihr der Tag im Krankenhaus vor Augen. Meredith hatte Ashlyn erlaubt, ihren wenige Stunden alten Säugling auf den Arm zu nehmen, obwohl die Oberschwester ausdrücklich abgeraten hatte. Das wird schon gut gehen!, hatte sie gesagt. Connie und ich sind ja dabei. Und dann hatte sie selbst Fotos gemacht, eins rahmen lassen und es Connie geschickt. Und dann hatte sie Connie natürlich gebeten, Leos Patin zu werden.
»Es ist schön, Gesellschaft zu haben«, sagte Connie.
»Auch, wenn ich es bin?«, fragte Meredith.
»Auch, wenn du es bist«, bestätigte Connie.
Meredith
Um zehn vor fünf befand Meredith, dass sie es nicht länger aufschieben konnte. Sie musste ihre Anwälte anrufen und ihnen ihren Aufenthaltsort durchgeben. Schließlich wurde gegen sie ermittelt. Sie durfte das Land nicht verlassen; das FBI hatte ihren Pass. Burt und Dev mussten wissen, wo sie war.
Sie setzte sich auf ihr Bett und schaltete ihr Handy ein. Das war zu einem spannenden Moment in ihrem Tagesablauf geworden. Hatte jemand angerufen? Ihr eine SMS geschickt? Hatten Carver oder Leo die Regeln übertreten und ihr das Ich hab dich lieb geschrieben, nach dem sie sich so verzweifelt sehnte? Hatte irgendeine von Merediths ehemaligen Freundinnen genügend Mitgefühl aufgebracht, um mit ihr Kontakt aufzunehmen? Würde sie von Samantha hören? Hatten Burt oder Dev sich gemeldet? Mit guten oder schlechten Nachrichten? Wie schlecht würden die schlechten Nachrichten sein? War dies der Augenblick, in dem Meredith das Schlimmste erfuhr? Tatsächlich ließ sie ihr Telefon nur ausgeschaltet, um die Qual der Ungewissheit auf diese eine Situation zu beschränken, statt sie den ganzen Tag lang zu erleben.
Es gab keine Nachrichten, weder auf der Mailbox noch als Text, was wiederum eine andere Form des Elends darstellte.
Sie wählte die Nummer der Anwaltskanzlei und sprach dabei das Ave Maria, das sie bei diesem Anruf immer aufsagte. Von unten hörte sie, wie Connie das Abendessen zubereitete.
Meredith hatte geglaubt, sie würde sich auf Nantucket vielleicht sicherer fühlen, doch jetzt plagte sie eine unterschwellige Angst. Nantucket war eine Insel, fast fünfzig Kilometer weit draußen im Meer gelegen. Wenn sie nun fliehen musste? Hier konnte sie nicht in ein Taxi springen und sich über eine Brücke oder durch einen Tunnel nach New Jersey retten. Hier bestand keine Möglichkeit, schnell nach Connecticut zu gelangen, falls Leo oder Carver sie brauchten. Sie fühlte sich sowohl ausgeschlossen als auch eingesperrt.
Meredith besaß sechsundvierzigtausend Dollar, selbst verdientes Geld, das sie während ihrer Lehrtätigkeit in den 1980ern gespart und auf einem Konto angelegt hatte, das anderthalb Prozent Zinsen abwarf. (Freddy hatte sie dafür ausgelacht. Lass es mich investieren, hatte er gesagt. Ich verdoppele es dir in sechs Monaten. ) Aber Meredith hatte aus persönlichem Stolz an ihrem Sparkonto festgehalten, und wie erleichtert sie jetzt darüber war! Sie besaß etwas, von dem sie leben konnte, rechtmäßig verdientes und angelegtes Geld. Vielen Menschen würden sechsundvierzigtausend Dollar wie ein Vermögen vorkommen, das wusste sie, für sie dagegen war es ein jämmerlicher Betrag. So viel hatte sie an einem einzigen Nachmittag für Antiquitäten ausgegeben. Widerlich!, dachte sie, während das Telefon läutete. Wie bin ich zu so einem Menschen geworden?
Die Rezeptionistin nahm ab.
»Kann ich mit Burton Penn sprechen, bitte?«, fragte Meredith.
»Darf ich fragen, wer Sie
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