Inselglück
Leo?«, fragte Meredith. »Bitte sagen Sie mir, wie es für ihn steht.«
»Ich habe heute noch nichts von Julie gehört.« Julie Schwarz war Leos Anwältin. Ihre Aufgabe war es, den Bundesbeamten dabei zu helfen, Mrs Misurelli aufzutreiben und zu beweisen, dass Deacon Rapp, dieser Mistkerl, gelogen hatte. »Und Tage, an denen ich nichts von Julie höre, sind gute Tage, so gern ich sie auch habe. Das bedeutet nämlich, dass es keine Neuigkeiten gibt. Und wie man so sagt: Keine Nachrichten sind … «
»Genau«, warf Meredith ein. Sie war nicht bereit, die Worte gute Nachrichten auszusprechen. Nicht, bevor sie und Leo und Carver frei und unbelastet waren. Und zusammen.
Verdammter Freddy!, dachte sie (eintausendeins).
Von unten ertönte eine Stimme. Es war Connie, die sie zum Abendessen rief.
Sie saßen an einem runden Teakholztisch auf der Terrasse und blickten hinaus auf das gleichmütige Meer. Ihm war es egal, ob die Menschheit lebte oder starb oder betrog oder stahl; es wogte und brandete einfach weiter, näherte sich tosend, wich zurück.
Connie hatte sich ein Glas Wein eingeschenkt. »Meredith, möchtest du Wein?«, fragte sie.
»Hast du auch roten?«
»Natürlich habe ich roten«, sagte Connie und stand auf.
»Nein, warte, ich will doch keinen«, sagte Meredith. Das Hähnchen brutzelte auf dem Grill und duftete köstlicher als alles, was Meredith in den letzten Monaten gegessen hatte. Sie hätte dazu und zu dem frischen, leckeren Salat, den sie jetzt aßen – Connie hatte die Vinaigrette zubereitet, während Meredith ihr erstaunt zusah – , gern ein Glas Rotwein getrunken, aber das hätte sie zu sehr an sich und Freddy an ihrem Stammtisch im Rinaldo’s erinnert.
»Bist du sicher?«
»Ich bin sicher.« Meredith schaute blinzelnd aufs Wasser und sah in etwa zwanzig Metern Entfernung einen glatten, schwarzen Kopf. »Habt ihr Seehunde hier?«
»Das ist Harold«, sagte Connie. »Unser Seehund. Er ist immer hier.«
Meredith beobachtete, wie Harold durch die brechenden Wellen schwamm, dann bemerkte sie Connies niedergeschlagenen Blick.
»Alles in Ordnung?«, fragte Meredith.
Connie nahm einen Schluck Wein und nickte, doch ihre Augen glänzten. Unser Seehund. Sie dachte an Wolf. Meredith hätte am liebsten nach ihrer Hand gegriffen, aber sie war sich nicht sicher, wie eine solche Geste aufgenommen werden würde.
Connie schniefte. »Erzähl mir was.«
»Was?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas«, sagte Connie. »Irgendwo müssen wir ja anfangen.«
Meredith schaute instinktiv auf ihre Armbanduhr. Zu ihrem Geburtstag im Oktober hatte Freddy ihr eine Cartier mit Tigerarmband geschenkt, aber sie hatte alle persönlichen Habseligkeiten, die in den letzten zwölf Monaten erworben worden und mehr als dreihundert Dollar wert waren, zurücklassen müssen. »Na ja, im Moment sitzt Freddy im Bus nach Butner. Um zehn Uhr ist er da.«
»Mein Gott«, sagte Connie.
»Was er getan hat, war schrecklich.« Meredith schluckte und hatte große Lust auf Wein, trank stattdessen jedoch von ihrem Eiswasser. Es enthielt eine hauchdünne Zitronenscheibe. Bei Connie war alles so nett hergerichtet. Womit hatte Meredith das verdient? Freddy saß genau jetzt in einem Bus nach North Carolina, Hände und Füße mit schweren Eisenfesseln aneinandergekettet. Der Fahrer legte wahrscheinlich nur alle vier Stunden oder so eine Pinkelpause ein, und es konnte sein, dass Freddy sich einnässte. Das würde den anderen Häftlingen gefallen. Meredith verkrampfte sich vor Sorge, als ginge es um eins ihrer Kinder. Freddy litt an einer schwachen Blase. Meredith hatte sich in letzter Zeit gefragt, ob das wohl mit dem Stress, der Angst und den Schuldgefühlen zu tun hatte, die er mit sich herumschleppte. Vielleicht war seine Blase ja jetzt, da er gestanden hatte, belastungsfähiger. »Ich habe ihn im Gefängnis in New York besucht.«
»Ich weiß«, sagte Connie. »Ich habe es im Fernsehen gesehen. Dich, meine ich, auf dem Weg dahin.«
»Es war eine Katastrophe. Rückblickend betrachtet, hätte ich es lassen sollen. Aber ich wollte ihn sehen.«
Nachdem die Polizei Freddy am Nachmittag des 8. Dezember abgeführt hatte, stellte Meredith fest, dass sie in der Vergangenheitsform an ihn dachte, als ob er tot wäre – dabei war er am Leben, nur wenige Kilometer entfernt im Metropolitan Correctional Center, das durch einen unterirdischen Gang mit dem Bundesgericht verbunden war. Meredith durfte ihn besuchen. Aber sollte sie das tun? Diese Frage erwog sie
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