Inselglück
Tausende von Feinden. Es wurde noch gegen sie ermittelt. Das »noch« ließ es klingen, als wäre dies ein vorübergehender Zustand, der sich zum Guten wenden würde, doch wenn das nicht zutraf? Wenn Meredith nun für schuldig befunden wurde? Wenn Meredith nun schuldig war?
Was habe ich getan? , dachte Connie. Was habe ich getan?
Meredith bezog ihr Zimmer – einen schlichten Raum mit weißer Täfelung und einem eigenen kleinen Bad. Schlafzimmer und Bad waren beide in Rosatönen gehalten, von Connie selbst mit Hilfe von Wolf und der Frau im Marine Home Center eingerichtet. Vom Schlafzimmer aus führte eine französische Tür auf einen schmalen Romeo-und-Julia-Balkon. Meredith war begeistert.
»Mein Zimmer liegt ein Stück den Flur entlang«, sagte Connie. Das »Zimmer« war in Wirklichkeit eine große Suite, die die westliche Hälfte der ersten Etage einnahm. Sie umfasste ein Schlafzimmer mit einem riesigen Bett und Meerblick, ein Bad mit tiefer Whirlpoolwanne, separater Rainfall-Dusche, zwei Waschbecken, Toilette, Fußbodenheizung, Spiegelwand und einer Waage, die großzügig ein, zwei Pfund unterschlug. Es gab zwei geräumige Kleiderschränke. (Connie hatte letztes Jahr endlich Wolfs Sommersachen in den Secondhandladen gebracht.) Und dann war da noch Wolfs Arbeitszimmer mit seinem Zeichentisch, den gerahmten ozeanografischen Karten und einem Teleskop, das auf die interessantesten Sternbilder während des Sommers gerichtet war. Connie fühlte sich emotional nicht stabil genug, um Meredith die Suite zu zeigen, und Tatsache war, dass sie seit Wolfs Tod keine einzige Nacht in ihrem Bett verbracht hatte. Mit Hilfe von zwei oder drei Chardonnays war sie hier auf Nantucket jeden Abend unten auf dem Sofa eingeschlafen – oder, wenn Gäste im Haus waren, in der unteren Koje des Etagenbetts in dem Schlafzimmer im zweiten Stock, das sie unsinnigerweise für künftige Enkelkinder reserviert hatte.
Sie mochte nicht ohne Wolf in dem großen Bett schlafen. In Bethesda ging es ihr genauso. Sie konnte es nicht erklären. Irgendwo hatte sie gelesen, dass der Verlust des Ehepartners die Nummer eins aller Dinge sei, die Stress verursachten – und was hatte sie heute anderes getan, als sich noch mehr Stress aufzuladen?
»Ich muss zum Supermarkt«, sagte Connie.
»Ist es okay, wenn ich mitkomme?«, fragte Meredith.
Connie sah, wie Meredith auf den Zehen wippte, wie sie es früher am Ende eines Sprungbretts getan hatte.
»Gut«, stimmte sie zu. »Aber du musst deine Kappe und die Sonnenbrille aufsetzen.« Connie hatte Angst aufzufliegen. Wenn nun jemand herausfand, dass Meredith Delinn hier war, bei Connie wohnte?
»Kappe und Brille«, sagte Meredith.
Connie fuhr die zehn Kilometer zum Stop & Shop, während Meredith auf einem Notizblock, der auf ihren Oberschenkeln lag, eine Einkaufsliste machte. Connies Furcht schwand, und ein wohliges Gefühl beschlich sie, das sie sonst nur nach einer sehr guten Massage und drei Gläsern Chardonnay verspürte. Sie öffnete das Verdeck, so dass frische Luft hereinströmte, und stellte das Radio an – Queen mit »We are the Champions«, dem Siegessong des Feldhockeyteams der Merion Mercy Academy, für das sie und Meredith vier Jahre lang gespielt hatten. Connie grinste, und Meredith hielt ihr Gesicht in die Sonne, und einen Moment lang waren sie beide glücklich.
Im Supermarkt ließ Connie Meredith Vollkorntortillas und griechischen Joghurt besorgen, während sie an der Feinkosttheke anstand. Sie schickte sie Waschmittel, Gummihandschuhe und Schwämme holen, doch dann blieb Meredith so lange weg, dass Connie in Panik geriet. Sie eilte mit ihrem Wagen durch die Regalreihen, den anderen Kunden und ihren kleinen Kindern ausweichend, die sich, benebelt von Salzwasser und Sonne, alle im Schneckentempo voranbewegten. Wo steckte Meredith? Connie zögerte, nach ihr zu rufen. Es war unwahrscheinlich, dass sie den Laden verlassen hatte, wovor also hatte Connie Angst? Sie hatte Angst davor, dass Meredith in Handschellen abgeführt worden war. Eigentlich müsste sie in dem Gang mit den Haushaltsartikeln sein, doch da war sie nicht, auch nicht im nächsten Gang oder im übernächsten. Connie hatte ihre alte Freundin erst seit Stunden zurück, und schon war sie wieder verschwunden. Und Connie war sich nicht einmal sicher, ob sie wollte, dass Meredith blieb – warum also diese Panik?
Connie fand Meredith in dem Gang mit den Backwaren, wo sie auf eine Tüte Brötchen starrte.
Erleichterung
Weitere Kostenlose Bücher