Inselglück
Mensch ein anderer war.
»Das könnte Ihnen helfen, Meredith«, fügte Dev hinzu. »Es könnte Sie retten, Sie vor dem Gefängnis bewahren. In ein, zwei Jahren, wenn alles vorbei ist, könnten Sie zu einem normalen Leben zurückkehren.«
Zu einem normalen Leben? Was war das überhaupt? Meredith war in Versuchung, Dev von den aufgeschlitzten Reifen zu erzählen, doch sie hielt an sich. Sie hatte Angst, es würde nach einer Bitte um Mitleid klingen, dabei war das Bild, das Meredith von sich vermitteln wollte, eins der Stärke. Sie würde die Antwort finden. Sie würde sich selbst retten.
»Im Moment fällt mir nichts ein«, sagte sie. »Ich war nicht darauf vorbereitet. Aber ich versuche es. Ich mache eine Liste.«
»Danke«, sagte Dev.
In dieser Nacht konnte Meredith vor lauter Angst nicht einschlafen. Dauernd sah sie einen Mann mit Jagdmesser vor sich, der sich in den Dünen versteckt hielt. Sie stand auf, schlich in den Flur und spähte aus einem der Fenster, die zur Straße hinausgingen. Der Vorgarten war leer und still. Das Seegras wogte. Die wachsbleiche, konvex gewölbte Scheibe des Mondes verschwand hinter bauschigen Wolken und tauchte wieder auf. Um Viertel nach drei erschien ein Scheinwerferpaar. Meredith spannte sich an. Vor Connies Einfahrt wurde das Auto langsamer, verharrte, rollte dann weiter. Es war die Polizeistreife. Der Wagen blieb wenige Minuten auf dem öffentlichen Parkplatz stehen, dann setzte er zurück und fuhr davon
Meredith würde die Liste mit Wörtern anlegen, um die Dev sie gebeten hatte. Ein normales Leben bedeutete ein Leben mit Leo und Carver. Leo würde frei sein und in Sicherheit, und sie würden zu dritt – mit Anais und der jungen Frau, in die Carver gerade verliebt sein mochte – an dem rustikalen Eichenholztisch in Carvers imaginärem Haus zusammen essen.
Die Antwort würde ihr schon einfallen.
Atkinson. Der Name der Professorin, die den Anthropologie-Kurs geleitet hatte, durch den sie und Freddy zusammengekommen waren.
Meredith hatte Freddy das gebrauchte Lehrbuch überlassen, und mit diesem Band zwischen ihnen bewegten sie sich vom ersten Unterrichtstag an weiter aufeinander zu. Meredith und ihre Mitbewohnerin, ein Mädchen aus dem ländlichen Alabama namens Gwen Marbury, saßen neben Freddy und dessen Mitbewohner, Richard Cassel aus Shaker Heights, Ohio. Die vier wurden so etwas wie eine feste Clique, obwohl sie sich nur in diesem einen Kurs sahen. Wenn Meredith Freddy sonstwo auf dem Campus begegnete, war er meistens in Begleitung eines sehr attraktiven dunkelhaarigen Mädchens. Seine Freundin, vermutete Meredith, eine Studentin in höherem Semster. Das hätte gepasst. Freddy war zu witzig und intelligent und zu schön, um noch ungebunden zu sein. Durch Gwen Marbury, die sich weitaus mehr für die sozialen Verquickungen in Princeton interessierte als fürs Lernen, erfuhr Meredith, dass das Mädchen Trina Didem hieß und aus Istanbul stammte. Ihre Hauptfächer waren Volkswirtschaft und Politologie. Auch das passte: eine hinreißende junge Frau, exotisch und brillant, dazu bestimmt, Auslandskorrespondentin bei CNN zu werden oder Leiterin eines Thinktanks oder Staatssekretärin. Merediths Schwärmerei für Freddy verstärkte sich, je mehr sie über Trina erfuhr, obwohl sie wusste, dass es nur die Verknalltheit einer Erstsemester-Studentin in einen besonders coolen älteren Kommilitonen war, die sie überdies von ihren Gedanken an Toby ablenkte, der unten in Charleston mit all den süßen blonden Südstaatenmädels literweise Bier trank. Aber das Zusammensein mit Freddy und Richard und Gwen wusste Meredith wirklich zu schätzen – sie rissen Witze über die Klick- und Schnalzlaute in der Sprache der Khoisan und spekulierten über die Vorzüge des Matriarchats – , und danach setzte Meredith dann ihre anthropologischen Studien an Trina Didem fort, die auf den Steinstufen vor dem Gebäude auf Freddy wartete und dabei ihre Nelkenzigaretten rauchte. Sie trug immer ein schwarzes Wildlederhalsband sowie lang herabbaumelnde Ohrringe aus bunten Steinen, enge, ausgewaschene Jeans und eine italienische Umhängetasche aus butterweichem Leder. Eigentlich schwärmte Meredith genauso für Trina wie für Freddy. Trina war eine Frau, sie selbst dagegen ein Mädchen, das versuchte, eine Frau zu werden.
Anfang Dezember klopfte es eines Tages an die Tür zum Seminarraum. Professor Atkinson unterbrach ihren Vortrag mit verblüffter Miene, als wäre sie hier zu Hause und hätte nicht mit
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