Inselglück
und weil Meredith und Connie so eng befreundet waren, war Connie für ihn wie eine Adoptivtochter gewesen. Aber Meredith hatte den Verdacht, dass diese Trauerfeier für Connie und Drew nur eine zusätzliche Gelegenheit war, sich zu sehen und miteinander zu schlafen. Und warum hatte Connie hier jemanden, der sie tröstete, Meredith dagegen nicht?
Toby müsste hier sein, dachte sie. Er müsste um ihres Vaters willen hier sein. Und um ihretwillen.
Meredith schaute Dustin Leavitt an. »Bringen Sie mich weg hier«, sagte sie.
»Mit Freuden«, sagte er.
Zusammen gingen sie ohne Erklärung oder Entschuldigung zur Tür hinaus, und keiner regte sich auf. Meredith wurde der Spielraum gewährt, der Leidtragenden zusteht – vielleicht fiel ihr Abgang aber auch niemandem auf.
Sie folgte Dustin Leavitt zu seinem Wagen, einem eleganten Peugeot, und er hielt ihr die Tür auf. Sie stieg ein, erneut voller Scham über ihr grässliches Outfit, die noch dadurch verstärkt wurde, dass sie sich im Laufe des Tages ein Loch in den Fuß ihrer Strumpfhose gerissen hatte, so dass ihr großer Zeh den Stoff durchbohrte. Das quälte sie wie ein schartiger Fingernagel oder lockerer Zahn.
»Wohin möchten Sie?«, fragte Dustin.
Meredith zuckte die Achseln.
»Ist es okay, wenn wir zu mir fahren?«
»Klar«, sagte sie.
Sie schaute zum Fenster hinaus, während sie fuhren. Der Ort Villanova sah aus wie immer, aber er war verändert, weil es ihren Vater nicht mehr gab. Sie kamen am Bahnhof vorbei, wo bis gestern Chick Martins Wagen auf dem Parkplatz gestanden hatte, als ob er auf seine Heimkehr wartete. Wie oft war Meredith mit dem Bus von der Schule gekommen und hatte den bronzebraunen Mercedes ihres Vaters auf diesem Parkplatz gesehen?
Dustin Leavitt fuhr Straßen entlang, die sie auf den Expressway führten, und Meredith verspürte ein erstes Aufwallen von Panik. »Wo wohnen Sie?«, fragte sie.
»In King of Prussia«, sagte er. »Wo das Einkaufszentrum ist.«
Das Einkaufszentrum, okay, das war ihr vertraut, aber in kindlicher Naivität hatte Meredith angenommen, dass King of Prussia das Einkaufszentrum sei. Ihr war nicht klar gewesen, dass dort auch Menschen lebten.
Sie hatte keine Energie und keine Lust auf ein Gespräch; sie mochte Dustin Leavitt nicht nach seiner Familie fragen oder nach seinem Job oder seinen Hobbys, und ganz sicher wollte sie nicht über sich reden.
Er bog in einen Apartmentkomplex ein. Drei zwanzig oder dreißig Etagen hohe Gebäude formten einen Halbkreis. Sie betraten das mittlere. Im Erdgeschoss war ein chinesisches Restaurant. Durchs Fenster sah Meredith Menschen, deren Väter diese Woche nicht gestorben waren und die aus Goldfischgläsern neonblaue Cocktails tranken.
Dustin Leavitt holte seine Schlüssel hervor, schloss seinen Briefkasten auf, entnahm ihm einen Stoß Briefe und blätterte sie kurz durch. Diese simple, alltägliche Handlung versetzte Meredith einen regelrechten Schock. Was tat sie hier? Wer war dieser Mann? Was würde als Nächstes passieren?
Sie traten in den Fahrstuhl. Dustin Leavitt drückte den Knopf für den siebzehnten Stock. Dort stieg er aus. Was blieb Meredith übrig, als ihm zu folgen? Der Hausflur war mit kastanienbraunem Teppichboden ausgelegt, der Spuren eines Staubsaugers aufwies. Es roch nach Zigaretten und Müll und Sojasauce. Meredith ekelte sich. Sie merkte, wie betrunken sie war, und fürchtete, sich übergeben zu müssen. Dustin Leavitt schloss die Tür zu Apartment 1704 auf. Drinnen war es dunkel.
»Gut«, sagte er. »Mein Mitbewohner ist nicht da.«
Mitbewohner?, dachte Meredith. Sie war diejenige, die sich eine Wohnung teilte, mit Gwen Marbury. Sie wusste nicht, was sie von Dustin Leavitt erwartet hatte; wahrscheinlich, dass er ein Haus besaß wie Mr O’Brien, minus Ehefrau und Kinder. Dustin war dreiunddreißig. Ganz sicher hatte sie nicht mit einem schäbigen Apartment und einem Mitbewohner gerechnet.
Er öffnete seinen Kühlschrank, so dass die Küche illuminiert wurde, und fragte: »Möchtest du ein Bier?«
»Klar«, sagte Meredith.
Er reichte ihr eine Flasche St. Pauli Girl. Sie nahm einen winzigen Schluck, hauptsächlich, um die Gerüche der Umgebung zu überdecken. Dustin machte sich selbst auch ein Bier auf, lockerte seinen Schlips und ging den dunklen Flur entlang. Meredith zögerte. Jetzt, so schien es, war der Zeitpunkt gekommen, sich zu verabschieden. Aber sie hatte ihn gebeten, sie von den O’Briens wegzubringen, und als er gefragt hatte: »Ist es
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