Inselglück
Gästen gerechnet. In der Tür stand Trina Didem. Professor Atkinson warf Freddy einen Blick zu, vielleicht, weil sie dachte, ihre Erläuterung der Dunbar-Zahl würde womöglich gleich durch die Kabbelei eines Liebespaares gestört. Doch Trina, so schien es, war in offizieller Angelegenheit hier. In ihrem melodischen Englisch las sie von einem Zettel ab, dass sie auf der Suche nach Meredith Martin sei.
Meredith stand verwirrt auf. Hatte Trina von ihrer Vernarrtheit in Freddy gehört und wollte sie jetzt zur Rede stellen? Aber Trina erklärte, Meredith werde in der Studentenberatung erwartet. Meredith sammelte ihre Bücher ein. Freddy griff nach ihrer Hand, als sie ging. Es war das erste Mal, dass er sie berührte.
Meredith folgte Trina aus dem Gebäude. Sie war so fasziniert von deren Gegenwart, dass sie ganz vergaß, die offensichtlichen Fragen zu stellen: Warum hast du mich aus dem Seminar geholt? Wohin gehen wir? Es sah nämlich aus, als wären sie zum Büro des Dekans unterwegs und nicht, wie angekündigt, zur Studentenberatung. Vielleicht war der Weg aber auch derselbe – Meredith war noch zu neu auf dem Campus, um das zu wissen. Trina nutzte die Gelegenheit und zündete sich draußen in der kalten, kristallklaren Luft eine Nelkenzigarette an. Da sie Meredith ein, zwei Schritte voraus war, wehte Meredith der Rauch ins Gesicht. Irgendwie kam sie dadurch wieder zu sich und fragte: »Du bist Freddys Freundin, oder?«
Trina hustete bellend. »Nein, Freddy ist mein Englisch-Nachhilfelehrer.« Sie stieß noch mehr Rauch aus. »Und mein Volkswirtschaftstutor. Ich bezahle ihn.«
Meredith spürte, wie sich ihre eigene Lunge mit dem widerlichen, giftigen Qualm füllte – für sie schmeckte er nach verbranntem Sirup und nach den Lebkuchen ihrer Großmutter, die sie verabscheute – , aber das war ihr egal, so sehr freute sie sich. Freddy war Trinas Nachhilfelehrer! Sie bezahlte ihn! Meredith konnte es gar nicht abwarten, Gwen davon zu erzählen.
Ihr Entzücken war jedoch von kurzer Dauer. Sobald sie in dem eleganten Büro des Dekans standen, das bis auf sie beide leer war, schloss Trina die Tür. Meredith erinnerte sich an einen Orientteppich unter ihren Füßen, an das blecherne Ticken einer Standuhr. Sie bemerkte, dass Trina ihre Zigarette ausgemacht hatte, aber immer noch in eine Aura aus Rauch gehüllt war. Sie sah, dass Trina Mascaraflecken auf den Augenlidern hatte.
Was ist hier los?, wunderte sie sich. Doch sie war nicht mutig genug, es laut zu fragen. Es ging zweifellos um etwas Schlimmes. Ihr kam der flüchtige Gedanke, welche Ironie des Schicksals es wäre, wenn sie genau in dem Moment vom College fliegen würde, in dem sie erfuhr, dass Freddy ungebunden war.
»Der Dekan ist in einer Sitzung«, sagte Trina. »Ich bin Praktikantin hier, also haben sie mich geschickt, um dich zu informieren.«
Informieren worüber?, dachte Meredith. Ihre Stimme funktionierte nicht.
»Deine Mutter hat angerufen. Dein Vater hatte ein Hirnaneurisma. Er ist gestorben.«
Meredith schrie auf. Trina wollte sie anfassen, aber Meredith schlug nach ihr. Sie erinnerte sich, dass ihr der Schrei peinlich gewesen war. Sie schrie in Anwesenheit von Trina, die sie als Ikone universitärer Weiblichkeit angesehen hatte. Und welche Nachricht übermittelte ausgerechnet Trina ihr? Dass ihr Vater tot war.
Aber nein, unmöglich. Meredith war gerade über Thanksgiving zu Hause gewesen. Ihr Vater hatte am Bahnhof von Villanova auf sie gewartet. Eigentlich hatte er sie in Princeton abholen wollen, doch Meredith bestand darauf, die Bahn zu nehmen – New Jersey Transit bis zur 30th Street Station, Regionalzug nach Villanova. So macht man das, wenn man aufs College geht, Daddy!, hatte Meredith gesagt. Man fährt mit dem Zug!
Beide Eltern hatten sie in den kurzen Ferien verwöhnt. Ihre Mutter brachte ihr pochierte Eier ans Bett; ihr Vater gab ihr vierzig Dollar für das informelle Klassentreffen, das am Mittwochabend im Barleycorn Inn stattfand. Am Freitagabend nahmen Vater und Mutter sie mit zur alljährlichen Cocktailparty bei den Donovers, und als Konzession an ihren neuen Erwachsenenstatus erlaubte Chick ihr, Chablis zu trinken. Er stellte sie Paaren vor, die sie schon ihr Leben lang kannte, als wäre sie ein völlig neuer Mensch. Meine Tochter Meredith, Studentin in Princeton!
Chick Martin, Merediths wichtigster und bester Fürsprecher, der einzige Fürsprecher, den sie je gebraucht hatte, war nicht mehr da.
Meredith hielt gerade lange
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