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Inselkoller

Inselkoller

Titel: Inselkoller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
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Sie
bestellten sich Spaghetti Carbonara, Wasser und ein Glas Lugana.
    »Wie kommt es, dass Sie der Hausarzt von Frau
Mendel waren? Sylt liegt nicht gerade um die Ecke«, eröffnete Jung das Gespräch.
    »Ich lernte sie auf einem offenen Symposium
vor rund zwei Jahren in Westerland kennen. Ich hielt dort einen Vortrag über Ernährungsmedizin,
was sie brennend interessierte. Ernährungsmedizin ist neben Psychokinesiologie [7] und AKKINEA [8] mein Spezialgebiet. Sie kam nach der Veranstaltung
zu mir, und wir lernten uns kennen. Einer meiner Kollegen aus Westerland kannte
sie ebenfalls. Er klärte mich auf, mit wem ich es zu tun hatte. Wenn ich ehrlich
bin, so erwiderte ich ihr Interesse nur wegen der Aussicht, einen potenten Privatpatienten
zu gewinnen. Denn, wissen Sie, inzwischen ist es so weit gekommen, dass ich meine
Praxis von Kassenpatienten allein nicht halten kann. Das ist einfach so. Na ja,
sie wurde auch meine Patientin, und ich machte regelmäßig Konsultationsbesuche bei
ihr.«
    »Wie konnten Sie ihr helfen?«
    »Ihr war nicht zu helfen. Das klingt makaber,
aber es war so. Nach einem eingehenden Check-up in meiner Flensburger Praxis wusste
ich, dass sie eine gravierende Adipositas [9] hatte, das sah man ja sowieso. Dagegen kann
man in vielen Fällen erfolgreich vorgehen, wenn es sich nur um falsche Ernährung
dreht; weniger erfolgreich, wenn es sich um suchtbedingtes Essverhalten handelt;
fast aussichtslos ist die Sache, wenn genetische Faktoren die Ursache sind. In ihrem
Fall diagnostizierte ich alle drei Gründe. Aber das allein war nicht ausschlaggebend.
Erst die Folgen aus der schon lange Jahre andauernden Adipositas reduzierten ihre
Überlebenschancen erheblich. Herz und Kreislauf, übrigens auch die Knochen und Gelenke,
wurden dermaßen strapaziert, dass sie irgendwann irreparabel geschädigt waren.«
Seine lange Rede hatte des Öfteren Unterbrechungen erfahren, in denen er seine Spaghetti
genüsslich in den Mund geschoben und mit einem Schluck Wein hinuntergespült hatte.
    »Wie haben Sie sich verhalten? Klärten Sie
sie über den Befund auf?«
    »Selbstverständlich. Als Arzt stehe ich auf
dem Standpunkt, dass absolute Klarheit über den Status quo Grundlage jeder Behandlung
ist, die Erfolg haben will.«
    »Sie haben ihr also gesagt, dass sie sterben
wird?«
    »Das ist doch banal, das müssen wir alle. Wichtig
ist doch nur der Zeitpunkt. Und darüber weigere ich mich grundsätzlich, Angaben
zu machen. Der Mensch ist ein erstaunliches Wesen und für jede Überraschung gut,
vor allem in dieser Hinsicht. Ich neige mehr und mehr dazu, göttliche Absichten
zu unterstellen. Und wir Ärzte sind nicht dazu da, Gott ins Handwerk zu pfuschen,
sondern ihm zu dienen.«
    Jung schwieg, drehte die Spaghetti auf die
Gabel und schob sie sich in den Mund.
    »Gottes Willen zu dienen, wie machen Sie das?
Woher wissen Sie, was er will? Darüber müssen wir noch einmal sprechen, aber nicht
heute. Was taten Sie für Ihren Erfolg, wenn ich Sie zitieren darf?«
    »Ich habe sie erst einmal umfassend aufgeklärt.
Aber ohne diesen melodramatischen Ton von tragischer Unausweichlichkeit, der sich
eigentlich nur darüber wundert, dass sie überhaupt noch am Leben ist. Dafür war
sie mir dankbar. Dann stellten wir zusammen einen Verhaltens-, Ernährungs- und Medikamentenplan
auf, der darauf abgestimmt war, ihre Kräfte zu stärken. Meine Absicht war, ihre
verbleibende Zeit auf dieser Erde für sie so angenehm und so lang zu machen, wie
es nur irgend ging. Das macht man nicht mit Verboten, sondern mit Ermutigungen.«
    Bär nahm einen Schluck Weißwein und wischte
sich mit der Serviette über den Mund.
    »Und wie hat sie reagiert?«
    »Ich glaube, sie atmete innerlich auf und schöpfte
Hoffnung, worauf auch immer. Sie war nicht lange genug meine Patientin, als dass
ich mir mit letzter Sicherheit darüber hätte klar werden können, wie sie dachte
und fühlte. Sie war intelligent genug, sich einzugestehen, wie es wirklich um sie
stand. Aber ich glaube, sie hatte panische Angst vor dem Tod. Deswegen kommt Selbstmord
für mich auch nicht infrage, nicht mal als theoretische Möglichkeit. Sie wollte
leben, und das besser als bisher.«
    Es entstand eine Pause.
    »Nehmen wir noch einen Kaffee oder Espresso?«,
fragte Jung.
    »Nein, danke, für mich nicht.«
    »Wie kam sie an ihre Medikamente?«, lenkte
Jung zurück zum Thema. »Wir vermuten, dass das Gift über ihre Medikamente zu ihr
kam, unabhängig davon, ob es nun Selbstmord oder Mord

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