Inselkoller
Er konnte das einfach nicht.
Draußen schritt er schnell in Richtung Holmpassage.
Im angrenzenden Parkhaus hatte er sein Auto abgestellt. Erst als er den Wagen auf
die Husumer Straße gelenkt hatte, wurde ihm wohler, und er beruhigte sich. Er würde
lieber einen besonders opulenten Blumenstrauß bei der Gärtnerei Gänseblümchen in
Auftrag geben, deren Kunst er schätzte und bewunderte. Er schob eine CD in das Autoradio. Brahms’ Violinkonzert erklang. Beim Einsatz
der Solovioline schossen ihm die Tränen in die Augen, dass es schmerzte.
Abends lag er neben seiner Frau im Bett.
»Kennst du Caras Freundinnen aus Schweden und
Hamburg?«, begann er ein Gespräch unter Eltern.
»Freundinnen, die sind heutzutage etwas anderes
als zu unserer Zeit. Sie hat sie aus dem Internet-Chat mit Visus aufgegabelt.«
»Visus? Was ist das denn?«
»Visus sind Anhänger der Visual-Kei-Mode. Es
macht mich ganz rappelig, sie den ganzen Tag vor dieser Flimmerkiste rumklicken
zu sehen. Abgesehen mal davon, dass es ungesund für die Augen, das Gehirn und die
Körperhaltung ist, finde ich es auch asozial. Es hat Suchtcharakter, wenn du mich
fragst.«
»Na ja, von 7 bis 14 Uhr ist sie ja in der
Schule oder auf dem Weg dorthin oder zurück. Wahrscheinlich hat sie von den sozialen
Kontakten die Nase voll und macht danach, was einfach ist und ihr gefällt. Ich kann
sie verstehen. Außerdem nutzt sie den Computer sehr kreativ. Hast du die Homepage
gesehen, die sie für Clemens gemacht hat?«
»Tomi, man muss die Kirche aber im Dorf lassen.
Wenn sie nur die Hälfte der Zeit, die sie am Computer sitzt, mit ihren Hausaufgaben
verbrächte, brauchten wir uns nicht weiter um ihre Versetzung Sorgen zu machen.
Hygiene und Sauberkeit sind auch nicht ihre Stärken, von dem Chaos in ihrem Zimmer
mal ganz abgesehen. Ach, ich kann diese elektronischen Dinger sowieso nicht leiden.
Der Umgang damit macht mich ganz wuselig.«
Jung schwieg und starrte die dicke Kerze auf
der flachen Ablage an der gegenüberliegenden Wand an. Seine Frau hatte in gewisser
Weise recht, aber es widerstrebte ihm, mit der gleichen Verve in dasselbe Horn zu
blasen.
»Tomi, was macht denn dein neuer Fall?«, lenkte
seine Frau das Gespräch auf ein neues Thema.
»Du weißt ja schon in groben Zügen, worum es
geht. Ich hatte ein Gespräch mit einem ehemaligen Kollegen. Mit seiner Hilfe glaube
ich, einen Weg gefunden zu haben, die Sache Erfolg versprechend anzugehen. Es geht
um viel Geld. Für die da oben scheint auch einiges auf dem Spiel zu stehen. Ich
muss mich bei Holtgreve absichern. Ich fühle mich nicht wohl dabei. Es ist kompliziert.«
»Tomi, du grübelst zu viel.«
»Na und? Das ist mein Beruf.«
»Tomi, ich werd dir mal einen kleinen Vortrag
halten, und bitte unterbrich mich nicht. Du weißt, ich arbeite mit Kindern, die
Lernschwierigkeiten haben. Dafür gibt es objektive und subjektive Gründe. Die objektiven,
die Fehler im Gehirn, sozusagen in der Hardware, können mit wissenschaftlich fundierten
Methoden erkannt, sortiert und identifiziert werden. Die von der Wissenschaft entwickelten
Hilfen werden darauf angesetzt.
Die subjektiven Gründe liegen immer in allernächster
Nähe der Kinder, also bei der Mutter, dem Vater, den Geschwistern, den Familien
oder was davon übrig ist. Dabei stellt sich meistens heraus, dass ihre allernächste
Nähe ihnen gar nicht nahesteht. Und meine Hilfe besteht darin, ihnen nahezukommen
und die Leerstellen auszufüllen. Nun wird auf einmal einiges klar und einsichtig,
und ich kann sie anleiten, spielend zu lernen, was ihnen vorher trotz aller Anstrengung
nicht gelang. Was will ich damit sagen? Du solltest der Toten nahekommen und erst
mal alles andere beiseite lassen. Ich meine das ganz wörtlich. Naheliegend ist der
ganz banale Alltag. Wer hat geputzt, gekocht, gewaschen, den Garten besorgt, mit
ihr gesprochen und so weiter und so fort.«
Sie wandte sich ihm zu und sah ihn, den Kopf
auf dem Kissen, die Augen geschlossen, als ob er eingeschlafen wäre. Sie spürte
Ärger in sich aufkommen. Bevor sie ihn anwachsen ließ, drehte sie sich auf die Seite,
nahm ihr Buch auf und begann zu lesen. Der Held ihrer Lektüre hieß Kommissar Beck,
ebenfalls ein grüblerischer Schwerenöter. Es schien eine berufsspezifische Krankheit
zu sein. Beck jagte den ›Mann auf dem Balkon‹, ihr Mann einen Giftmischer.
›Naheliegend‹, das Wort hatte er heute schon einmal gehört. Jung öffnete
die Augen und sah durch das große Fenster in die
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