Inselkoller
deswegen kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, schon gar nicht am Telefon, von
der Zeit mal ganz abgesehen.«
Jung merkte, dass er so nicht weiterkam. Er
verfiel auf den Gedanken, eine weniger offizielle Unterhaltungsform zu suchen.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wir treffen
uns vor Ihrer Praxis, wenn Ihre Sprechstunde zu Ende ist. Geht das?«
»Ich weiß zwar nicht, was Sie sich davon versprechen,
aber gut. Ich treffe Sie um 12.30 Uhr auf dem Südermarkt. Bis dann.«
»Danke für Ihr Entgegenkommen. Bis dann.«
Bevor Jung geendet hatte, klickte es schon
in der Leitung. Er war irritiert, dass ihm die Möglichkeit genommen war zu fragen,
wie sie sich zu erkennen geben sollten.
Bis zu seinem Treffen mit Bär hatte er genügend
Zeit, den Kontakt zum jüngeren Sohn der Toten und der Schwiegertochter vorzubereiten.
Es schien ihm angebracht, sie schriftlich um eine Unterredung zu bitten. Bei einem
Schreiben hatte er ausreichend Zeit, Formulierungen zu finden, die sie nicht aufregten
und in Alarm versetzten. Er wollte es so klingen lassen, als seien die Akten schon
fast geschlossen, und nur die Verpflichtung der Polizei zur Gründlichkeit sei der
Anlass, noch einmal um ein abschließendes Gespräch zu bitten. Er setzte das Schreiben
auf, suchte sich die Adresse aus den Akten und ging anschließend zum Schreibdienst,
um den Brief auf den Weg zu bringen.
Der Schreibdienst lag ein Stockwerk tiefer
und bestand aus zwei weiblichen Halbtagskräften. Früher hätte man sie als Sekretärinnen
bezeichnet, heute hießen sie Büroassistentinnen, in Wirklichkeit waren sie Mädchen
für alles mit bestandenem Einführungskurs für Microsoft Office. Wie immer waren
sie überlastet. Der Chef hatte sich in einer halben Stunde angemeldet. Deswegen
konnten sie jetzt Jungs Post nicht mehr annehmen. Er wünschte sich in diesem Moment
die Fähigkeit seiner Frau Svenja. Sie hätte ihren Wunsch mit einer alles bezwingenden,
coolen Freundlichkeit vorgebracht. Wer ihr nicht gehorchen wollte, schloss sich
selbst unzweifelhaft von der wichtigen, guten Welt aus und lud Schuld an deren Beschädigung
auf sich. Ihn ließen sie stehen wie einen nassen Sack, wie die Inkarnation von Unverfrorenheit
und Unverständnis. Er vertröstete sich auf später und zog sich resigniert in sein
Büro zurück.
Danach versuchte er, Helga Bongard, die Freundin
der Toten, zu erreichen. Bei ihr zu Hause, in Holtbüll, meldete sich niemand. In
ihrer Praxis – er hatte sich die Nummer heraussuchen lassen – nahm sie schon nach
dem ersten Läuten den Hörer ab.
»Praxis Dr. Bongard.«
»Jung hier, Polizei-Inspektion Nord. Guten
Tag.«
»Oh nein, nicht schon wieder. Ich musste das
letzte Mal für vier Wochen meinen Führerschein abgeben. Bitte nicht noch einmal,
bitte.«
»Ich kann Sie beruhigen. Ich bin nicht von
der Verkehrspolizei.«
»Oh Gott, mir fällt ein Stein vom Herzen. Schlimmer
hätte es kaum kommen können. Oder täusche ich mich da?«
»Ja, ich weiß nicht. Ich würde eher sagen:
Nein, es ist nicht schlimmer, es war schlimmer, ist aber vorbei.«
»Nun lassen Sie mich doch nicht länger um die
Lampe fliegen. Raus mit der Sprache. Worum geht es?«
Ihr Tonfall und ihre Diktion ließen Jung hoffen,
dass er auf jemanden gestoßen war, der seiner Strategie entgegenkam und auf dessen
Mitarbeit er hoffen konnte. Er nahm sich vor, alles zu unterlassen, was dem im Wege
stehen könnte.
»Es geht um Ihre verstorbene Freundin, Frau
Mendel.«
»Ich glaubte, der Fall wäre schon erledigt«,
unterbrach sie ihn.
»Wir sind dabei, die Aktendeckel zu schließen.
Es gibt eigentlich nichts Neues in dem Fall. Aber wir wollen abschließend letzte
Zweifel an einem Selbstmord ausräumen, oder besser, noch einmal mit denen diskutieren,
die ihr nahestanden. Und deswegen rufe ich Sie an.«
Längere Zeit hörte Jung nichts. Dann meldete
sie sich wieder. Ihre Tonlage war aus der Höhe künstlicher Erwartungsfreudigkeit
einer Powerfrau auf das schlichte Niveau einer Normalfrau gefallen. Ihre Stimme
war frei von forcierter Wurstigkeit und um gepflegte Artikulation bemüht.
»Herr Kommissar Jung, ich warte schon von Anfang
an auf diese Gelegenheit. Dazu braucht es aber jemanden, der willens ist, die Klappe
zu halten und zuzuhören. Ich will nicht Vorurteile und Theorien von unreifen Polizeibeamten
bestätigen müssen, verstehen Sie? Ihre Kollegen zeichnen sich nicht durch besondere
Qualitäten aus, das möchte ich an dieser Stelle mal sagen dürfen.«
Jung wusste nicht, wie
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