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Inselkoller

Inselkoller

Titel: Inselkoller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
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dem Tisch.
Man kennt mich hier.«
    Jung musterte sie kurz, nahm die Speisekarte
in die Hand, legte sie aber sogleich wieder beiseite.
    »Wenn Sie öfter hier sind, können Sie mir sicherlich
etwas zu essen empfehlen?«
    »Gerne. Abends sollten Sie Ihren Magen nicht
strapazieren. Ich empfehle Ihnen einen Salat ›Alla Stazione‹ und in Knoblauch und
Olivenöl gebackene Scampis. Dazu gibt es ein köstliches Brot. Sie werden sehen.«
    Jung folgte ihrem Rat. Sie einigten sich auf
eine Karaffe Barolo als Begleitgetränk. Danach übergaben sie ihre Bestellung der
schwarzen Madonna der Stazione.
    »Sie ist übrigens die Chefin. Ihr Mann macht
die Küche. Und Kinder haben sie auch.« Helga Bongard blickte ihn aufmerksam und
mit fragenden Augen an.
    »Interessant. Haben Sie auch Kinder?«, fragte
Jung zurück.
    »Ja, einen Sohn. Er studiert in Kopenhagen
Zahnmedizin.«
    »In Kopenhagen? Sehr seltener Studienort. Wie
kommt Ihr Sohn …«
    »Es gibt eine andere, kuriosere Seltenheit«,
schnitt sie ihm das Wort ab. »Zum Beispiel, dass die Polizei ernstlich glaubt, meine
Freundin hätte sich selbst umgebracht.«
    In ihrer Stimme schwang Ärger mit. Jung nahm
sich zurück und sah sie forschend an.
    »Sie glauben es offensichtlich nicht. Warum?«,
fragte er sanft.
    »Ich weiß es einfach. Anna und ich verstanden
uns vom ersten Augenblick an, so, als hätten wir uns schon immer gekannt. Vielleicht
liegt es daran, dass wir beide das typische Frauenschicksal teilen.«
    Jung lag auf der Zunge, ihre vergleichbaren
Schicksale auf ihre vergleichbaren Körperumfänge zurückzuführen. Er bremste sich
aber rechtzeitig und seufzte mehr genervt, als dass er aus Interesse gefragt hätte:
»Das typische Frauenschicksal, was ist das denn?«
    »Höre ich da etwa einen Macho heraus? Typisch
Mann, der von Frauen keine Ahnung hat.«
    »Suum cuique [10] «, erwiderte Jung leicht verärgert.
    »Was …, ja, total richtig.«
    Sie schwieg, als hätte Jung ihr die Sprache
geraubt. Er registrierte, dass sie das lateinische Zitat nicht verstanden hatte.
Und sie wollte sich nicht die Blöße geben, ihn nach der Bedeutung zu fragen. Er
hatte etwas falsch gemacht. Das Gespräch drohte zu versiegen, noch bevor es richtig
begonnen hatte.
    »Darf ich Ihnen noch einen Jägermeister bestellen?«,
startete Jung einen neuen Versuch.
    »Ja, gerne. Mein Magen braucht das, wissen
Sie. Ich habe keine Galle mehr, also muss ich von oben für Ersatz sorgen.«
    »Das tut mir leid. Wie ist denn das passiert?«,
fragte Jung fürsorglich.
    »Ich will jetzt nicht darüber reden. Das Essen
kommt, und ich will es genießen.«
    Das Essen und die Getränke wurden auf dem Tisch
angerichtet. Sie begannen wortlos, die Servietten zu entfalten, die Bestecke aufzunehmen
und zu essen.
    »Diesen Test habe ich wohl versiebt, oder?«,
nahm Jung das Gespräch wieder auf.
    »Ach Gott, warum rege ich mich auf? Wahrscheinlich
haben Sie recht. Ich hätte auch keinen Bock, mir das Genörgel frustrierter Weiber
anzuhören.«
    Jung schwieg einen Moment und bemerkte danach
mehr zu sich selbst: »Immerzu lächelnde und vor guter Laune überlaufende Bilderbuchfrauen
sind auch nicht gerade amüsant. Mich interessiert was ganz anderes.«
    »Aber hallo!«, warf sie erstaunt ein. »Auch
noch ein kleiner Philosoph hinter dem Polizisten. Wollen Sie mir nicht einen kleinen
Vortrag halten?«
    Jung seufzte: »Heute nicht, vielleicht ein
anderes Mal, später, wenn alles vorbei ist.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas
und sah ihr amüsiert in die Augen.
    »Wie lernten Sie Frau Mendel kennen?«, brachte
Jung das Gespräch zurück auf das gewünschte Gleis.
    »Es war Mitte der 90er. Damals war ich noch
verheiratet, aber schon schwer genervt. Ich wollte in unserer Ferienwohnung auf
Sylt für ein paar Tage relaxen. Mein Schlüssel passte nicht mehr ins Schloss. Mein
Alter hatte das Schloss hinter meinem Rücken auswechseln lassen. Da stand ich nun
mit meinem Koffer, voller Wut und wild entschlossen, mich nicht kleinkriegen zu
lassen. Unsere Ferienwohnung hatten wir einer Agentur zur Vermietung überlassen
für Zeiten, in denen wir sie selbst nicht nutzen konnten. Ich dachte, die müssten
einen Schlüssel haben, und wandte mich an die Agentur in der Strandallee. Da traf
ich Anna zum ersten Mal. Sie war damals schon dick, wenn auch nicht so dick wie
zum Schluss.«
    »Und was passierte?«
    »Ich erzählte ihr meine Geschichte, und sie
hörte einfach nur zu. Ich fühlte mich gut bei ihr. Sie laberte nicht,

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