Inselkoller
in die Ohren schreien!«, herrschte er die Frau an.
»Hören Sie mal, dies ist zum Glück ein freies
Land. Da kann ich sagen, was ich will. Wir leben schließlich in einer Demokratie,
da lass ich mir von Ihnen nicht den Mund verbieten. Diese Zeiten sind endgültig
vorbei. Halten Sie sich da gefälligst raus, und regen Sie sich ab.«
Der Zugbegleiter wandte sich ihnen zu und sah
Jung entschuldigend an. Der Gruppenführer schwieg verängstigt. Er trug zu blauen
Joggingschuhen und einer engen blassgrünen Laufhose einen rötlichbraunen Sweater,
der an der Stelle, an der man die Taille zu finden gewohnt ist, von einer schwarzen
Gürteltasche umschlungen war. Sie spannte hässlich über seinem Bierbauch. Das auf
den Kopf gestülpte, steife Baseball-Cap der New York Yankees, seine müden Augen
und der umgehängte analoge Fotoapparat machten aus ihm die Ikone einer endgültig
verlorenen Generation. Jung erhob sich und wechselte in den nächsten Waggon in Richtung
Zugmaschine. Vorne im Wagen sah er einen schmächtigen Farbigen sitzen, an dessen
Seite ein Platz leer geblieben war. Er steuerte auf den freien Sitz zu. Als er sich
darauf niederließ, registrierte er beiläufig zwei schräge Schmucknarben über schwarzen
Wangenknochen und ein begrüßendes Lächeln, das die weißen Zähne eines hübschen Gebisses
freilegte. Er erwiderte den Gruß mit einem gedankenverlorenen Nicken. Bis der Zug
vor Morsum vom Damm auf die Insel rollte, blieb sein Blick auf das vorbeigleitende
Wattenmeer geheftet. Nach Durchfahrt eines hässlichen, von Billigmärkten und Lagerhallen
zugestellten Gewerbegebietes bei Tinnum kamen sie schließlich in Westerland zum
Stehen.
Jung hatte vor ein paar Tagen telefonisch mit
der Apothekerin in der Strandstraße Kontakt aufgenommen und um einen Gesprächstermin
gebeten. Sie hatte ihm sehr höflich geantwortet, dass sie jederzeit während der
Öffnungszeiten in ihrer Apotheke anzutreffen und zu sprechen sei. Ein Termin brauche
nicht extra vereinbart werden. So war Jung frei in der Zeitwahl. Er entschloss sich,
vor dem Treffen mit Helga Bongard die Apotheke aufzusuchen.
Ihn erwartete eine schlanke, eher schmächtige
Endsechzigerin im weißen Kittel und mit eisgrauen kurzen Haaren. Ihr Gesicht war
wettergegerbt und von gesunder Farbe. Es strahlte eine zurückhaltend-freundliche
Energie aus, die – wie ihm schien – vor nichts in die Knie zu gehen bereit war.
Ihre Stimme war leise, aber bestimmt, und ihre grauen Augen sahen ihn interessiert
an.
»Sie kommen wegen des Todes von Frau Mendel,
das sagten Sie ja schon am Telefon«, eröffnete sie nach der Begrüßung das Gespräch.
»Ich habe lange nichts mehr in der Sache gehört. Ich wunderte mich schon, dass vom
Abschluss der Untersuchung in der Zeitung nichts zu lesen war. Was kann ich für
Sie tun?«
»Wir klären letzte Details, bevor wir die Akte
schließen. Unsere Sorgfaltspflicht zwingt uns dazu. Neue Erkenntnisse im Fall selbst
gibt es nicht. Ihre Apotheke versorgte Frau Mendel mit den nötigen Medikamenten,
nicht wahr?«
»Ja, Herr Dr. Bär brachte jeden Monat die Rezepte
persönlich vorbei. Ich stellte die Charge zusammen. Unser Kurierdienst brachte sie
zu Frau Mendel nach Kampen.«
»Sie persönlich bürgten also für die korrekte
Zusammenstellung des Medikamentenpaketes?«
»Wenn Sie damit andeuten wollen, dass ich Gelegenheit
hatte, das Gift unter die Medikamente zu schmuggeln, so haben Sie recht. Aber Ihre
Kollegen haben schon hinreichend nachgewiesen, dass ich mich nicht im Besitz von
Strychnin befand. Im Übrigen habe ich auch kein Motiv für die Tat, nicht wahr?«
»Ich wollte nichts andeuten. Ich will nur dahinterkommen,
wie das Strychnin zwischen die Medikamente von Frau Mendel kommen konnte.«
»Also, ich habe schon seit etlichen Jahren
nichts mehr mit Strychnin zu tun. Ich hab auch nicht gehört, dass andere Apotheken
auf der Insel in letzter Zeit damit in Berührung gekommen sind.«
»Sind Sie denn jemals zuvor mit Strychnin in
Verbindung gekommen?«
»Ja, in den 60er-Jahren, als ich die Apotheke
von meinem Vater übernahm. Wir führten damals Strychnin als Rattengift.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Nein, das ist eine typische Sylt-Geschichte«,
lachte sie.
»Das interessiert mich. Erzählen Sie.« Jung
sah ihr gespannt in die Augen.
»Als ich auf die Insel kam, das war 1965, gab
es hier eine Rattenplage. Deswegen hatten wir auch Strychnin vorrätig. Es war eigentlich
keine Plage, sondern einer unserer prominenten
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