Inselkoller
zu viel, viel mehr.« Es entstand eine Pause, bevor Jung wieder
das Wort ergriff.
»Sie sind eine kluge Frau. Wollen wir noch
etwas trinken?«
»Danke für das Kompliment. Ja, bitte, für mich
noch einen Jägermeister. Und für Sie?«
»Ich nehme einen Espresso und einen Grappa.«
Sie gab die Bestellung auf. Jung legte seine
Unterarme vor sich auf den Tisch und sah sie schweigend an. Schließlich richtete
er sich auf.
»Wie ging das Ganze aus?«
»Ich hatte Kohle gemacht und jede Menge Verbindungen.
Ich kaufte mir eine heruntergekommene alte Kate auf dem Festland, richtete sie her,
zog ein und kündigte bei Anna. Ich lernte was gänzlich Neues und machte mich damit
selbstständig.«
»Sie sind mutig. Kompliment. Was sagte Ihre
Freundin dazu?«
»Sie war beleidigt. Aber was sollte sie sonst
tun? Es dauerte nicht lange – sie bekam für mich einen guten Ersatz, ihre Schwiegertochter.
Ich kann sie nicht ausstehen, aber sie ist kompetent und professionell. Das muss
der Neid ihr lassen.«
»Wieso Neid?«, hakte Jung nach.
»Das sagt man doch so, oder? In meiner Heimat
hätte ich gesagt, sie gehörte nicht zu dem Haufen Hühnerscheiße, den man sonst in
dieser Branche trifft.« Jung konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Später nahmen Sie den Kontakt zu Frau Mendel
wieder auf. Warum?«
»Na ja, eigentlich mochte ich sie ja. Ich fand
sie immer noch imponierend. Und nachdem ich ihr entwischt war, fühlte ich mich ihr
gegenüber frei. Ich besuchte sie hin und wieder. Letzten Sommer bot sie mir an,
eine ihrer Ferienwohnungen zu einem Schnäppchenpreis zu kaufen. Das Angebot passte
in meine berufliche und private Lage, und ich schlug ein. Bei meinem vorletzten
Besuch hatten wir den Kauf perfekt gemacht. Sie war voller Energie. Vielleicht lag
es an ihrem neuen Hausarzt, der ihr mal ein bisschen Feuer unterm Hintern machte.
Es gab an ihr etwas, das vorher nicht da war: Etwas Frisches, Lebendiges, als wäre
sie Oma eines wonnigen, kleinen Stinkers geworden, mit dem sie demnächst eine schöne
Zeit verbringen sollte. Sie war aber nicht Großmutter geworden.«
»Ist das der Grund, der Sie so sicher macht,
dass sie selbst sich nicht umgebracht hat?«
»Ja, das ist das Sahnehäubchen auf dem Gesamtkunstwerk
Anna Mendel. Zu ihr passt Selbstmord einfach nicht.«
»Ihr könnte nach Ihrem Besuch etwas widerfahren
sein, das sie so erschütterte, dass ihre Persönlichkeit völlig zusammenbrach.«
»Was sollte das denn wohl sein, nach dem, was
ich Ihnen von ihr erzählt habe?«
»Ich muss Ihnen recht geben, es ist schwer
vorstellbar. Aber sie ist vergiftet worden. Was denken Sie, ist da passiert?«
»Ich habe lange nachgedacht. Ich hab keine
Idee. Ihre Neider können nicht ihre Mörder gewesen sein. Ihr Tod hat denen nichts
zusätzlich in die Kassen gespült. Die Kundschaft wollte Anna, und sonst nichts.
Keiner konnte ihr das Wasser reichen oder sich einbilden, in ihre Fußstapfen treten
zu können.«
»Und ihre Familie?«
»Das glaube ich nicht. Ihr ältester Sohn jobbt
in Amerika. Mit ihrem geschiedenen Alten spricht sie schon seit Jahren nicht mehr.
Ihr jüngerer Sohn lebt mit seiner Angetrauten auf Sylt. Lernen Sie sie kennen und
machen Sie sich ein Bild von ihnen. Ich bin nächste Woche auf Sylt. Für heute reicht’s
mir. Vielleicht kommen Sie rüber, lernen den Sohn und die Schwiegertochter kennen,
und wir quatschen weiter.«
»Eine letzte Frage: Wer besorgte eigentlich
ihren Haushalt, ich meine den von Frau Mendel?«
»Das erledigte der Gebäudeservice, der für
ihre Ferienwohnungen zuständig war. Der Hausmeister organisierte das auf Absprache.
Übrigens ein widerlicher Kerl. Glauben Sie mir, ich erkenne meine Schweine am Gang.
Außerdem sieht er auf dem Kopf aus wie ein Bär um die Eier. Aber er war Anna sehr
ergeben. Lebensmittel lieferte ihr Kaufmann auf ihre telefonische Bestellung. Das
Haus müssen Sie sehen, ein Traum. Ihr Sohn und seine Frau wohnen jetzt da. Ich beneide
sie darum.« Ihr Gesicht verzog sich in schwärmerischer Verzückung.
Sie erhob sich von ihrem Stuhl. Jung sah sich
suchend nach der Garderobe um.
»Danke, Ich habe keine Jacke. Wir zahlen vorne
an der Theke.«
Sie beglichen ihre Rechnung bei der schwarzen
Madonna der Stazione, die sich mit einem freundlichen Lächeln bedankte und sie mit
dem Wunsch verabschiedete, sie bald wieder bei sich zu sehen.
Draußen fragte Helga Bongrad Jung schelmisch:
»Darf der Herr Kriminalrat denn zulassen, dass ich nach den Mengen an Wein und
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