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Inselkoller

Inselkoller

Titel: Inselkoller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Pelte
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leiste er sich einen gelungenen Scherz. Er fasste Mut, ruckelte
sein Fahrrad, artistisch auf dem Balken balancierend, nach hinten, von der Grube
weg, bis rechts neben ihm ein dicker Stützpfosten auftauchte, den er sogleich packte.
Er ließ sein Rad sausen und kletterte über den Pfosten und das sich anschließende
Balkenwerk auf die belebte Straße zurück. Er rechnete mit Hochrufen auf seine gelungene
Errettung aus Todesgefahr. Aber die Menschen bewegten sich auf der Straße, als gäbe
es ihn gar nicht. Er setzte sich in ein Straßencafé und sog die Luft tief in die
Lungen. Dann schwor er sich, keine weiteren Verfolgungsrennen zu unternehmen, jedenfalls
nicht mit dem Fahrrad.
    Er fühlte sich ungewohnt leicht, so, als könne
er sich vom Fleck weg in die Luft erheben und davonfliegen. Und als hätte es nur
dieses Gefühls bedurft, sah er sich in die Lüfte schwingen, die Arme ausbreiten
und über die Baugrube, die anschließenden Häuser und Bäume hinwegschweben. Er flog,
und ein nie erlebtes Wohlgefühl breitete sich in ihm aus. Er flog, wohin er sah.
Aber über ihm gab es eine unsichtbare Grenze. Je näher er ihr kam, desto größer
war die Kraft, die ihn nach unten zog. Er hatte schließlich Mühe, einen höheren
Berg zu überfliegen. Es strengte ihn an, sich in der Luft zu halten. Dennoch genoss
er seinen Flug. Er wollte weiterfliegen und niemals aufhören müssen. Er ruderte
mit den Armen. Als er sie für einen Moment vor sich zusammenführte und sein Blick
seine Hände traf … klingelte es an der Wohnungstür. Er schrak auf und erhob sich
mühsam. Er fühlte sich wie gerädert, schlurfte zur Tür und öffnete. Draußen stand
die Apothekerin.
    »Mein Gott, wie sehen Sie denn aus«, entfuhr
es ihr spontan.
    Jung drehte sich um. Er schämte sich. Er steckte
in den Klamotten vom Vortag, hatte sich weder geduscht noch rasiert. Seine Zähne
fühlten sich pelzig und stumpf an. Er musste einen fürchterlichen Anblick bieten.
Er war unfähig, etwas daran zu ändern oder auch nur eine Entschuldigung abzugeben.
    Sie war hinter ihm eingetreten und sah sich
um. Dann fing sie an zu tun, was nötig war.
    »Ich lass Ihnen ein heißes Bad einlaufen. Bleiben
Sie nicht zu lange drin. Ihre Schleimhäute werden gereizt werden, und Sie werden
sich wahrscheinlich noch schlechter fühlen als jetzt schon. Machen Sie sich nichts
daraus. Frottieren Sie sich hinterher gut ab, und wickeln Sie sich anschließend
fest in ein trockenes Badehandtuch ein. Legen Sie sich unter die Bettdecke. Trinken
Sie. Ich komme später, um nach Ihnen zu sehen. Haben Sie verstanden?«
    Jung nickte und tat, wie ihm geheißen. Er merkte
nicht mehr, wie sie das Apartment verließ. Als er schließlich unter der Bettdecke
lag, war ihm, als läge er auf seinem Sterbebett. Wer würde ihn vermissen, wenn er
diese Welt verließe? Seine Frau? Ja schon, irgendwie so, wie wenn man ein nützliches
Utensil verliert. Seine Kinder? Er war sich nicht sicher. Ihre emotionalen Signale
waren eher spärlich und zurückhaltend. Deswegen hatte es ihn fast umgeworfen, als
er Zeuge des ekstatischen Weinkrampfes seiner Tochter Cara beim Abschied ihres Bruders
zu einem längeren Amerikaaufenthalt gewesen war. Er war kurz davor gewesen, von
seiner Rührung übermannt zu werden, und rettete sich in die Erledigung anfallender,
praktischer Notwendigkeiten. Seine Freunde? Er hatte keine Freunde.
    Seine Gedanken wurden schwerer. Er mochte sie
nicht. Sie marterten ihn. Sie strengten ihn an und raubten ihm die letzten Kräfte.
Er wollte das nicht. Er wollte Ruhe und Frieden. Alles tat weh, er selbst sich auch.
Irgendwann schwemmten ihn seine Gefühle und Gedanken in eine trübe Dämmerung, in
der die Reste seines Bewusstseins sich auflösten. Er fiel in einen unruhigen Schlaf.
    Er erwachte vom Klingeln an der Wohnungstür.
Er hörte, wie ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und die Haustür leise geöffnet
wurde. Er fühlte sich noch immer schlapp, und sein Körper schmerzte überall. Aber
im Kopf fühlte er den ersten frei werdenden Platz. Er richtete sich halb auf und
spähte angestrengt auf die Tür. Dann sah er Karin Mendel ruhig durch die Tür kommen.
    »Entschuldigen Sie, dass ich so einfach eindringe.
Ihr Kollege, der kauzige Doktor, hat mir erzählt, dass Sie krank sind. Ich dachte
mir schon, dass ich Sie im Bett antreffe. Ich wollte Ihnen eine kleine Stärkung
bringen.«
    »Oh danke, guten Tag«, erwiderte er mit belegter
Stimme.
    Er fühlte sich unwohl und gleichzeitig

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