Inselsommer
gehüllt saß ich nach einem kurzen Abstecher ins Bad am Esszimmertisch. Diesen Teil des Wochenendes liebte ich besonders. Wir tauschten uns intensiv über die vergangene Woche aus und planten die nächste. Doch so sehr ich unsere Gespräche auch genoss, hatten mich im Laufe der Jahre gelegentlich Zweifel beschlichen: War uns zwischen Vergangenheit und Zukunft nicht irgendwann die Gegenwart abhandengekommen? Hatten wir aus Angst die
wirklich wichtigen
Probleme gemieden? Natürlich sahen wir uns nicht nur am Wochenende, aber Patrick war als Werbetexter häufig beruflich unterwegs, bei Kunden in Deutschland und Europa, während ich Ausstellungen außerhalb von Hamburg oder Künstler in ihren Ateliers besuchte.
Manchmal gaben wir uns die Klinke in die Hand, und es blieb kaum Gelegenheit, sich in den Arm zu nehmen. Früher war es natürlich anders gewesen. Begierig wollten wir alles über den anderen erfahren. Doch irgendwann hatte der Alltag Einzug gehalten, und die Neugier war abgeflaut. Und ich musste mich nun fragen, ob ich bereit war, dies als gegeben hinzunehmen oder mein eingefahrenes Leben zu ändern.
Nach dem Frühstück ging jeder in der Regel seiner Wege: Patrick checkte seine Mails oder überarbeitete seine Texte, ich fuhr noch einmal in die Galerie, um dort nach dem Rechten zu sehen, auch wenn ich Jule vertraute. Selten blieb ich länger als ein, zwei Stunden. Meist war ich gegangen, ehe ArtFuture um sechzehn Uhr schloss. Doch seit Vincent bei mir arbeitete, griff ich nach jedem Strohhalm, um die gemeinsame, kostbare Zeit wenigstens um ein paar Minuten zu verlängern. Patricks Kommentar dazu war nur:
»Schatz, pass auf, dass du dich nicht übernimmst. Super, dass dir die Arbeit in der Galerie so viel Spaß macht, aber denk dran, dich auch mal zu erholen.«
Wenn er gewusst oder auch nur geahnt hätte, dass das Zusammensein mit Vincent wie eine Frischzellenkur auf mich wirkte … Natürlich war diese Verliebtheit alles andere als erholsam – meine Nerven lagen blank! –, aber es war einfach wundervoll.
»Sind Sie schon wach?« Beas Stimme und ein leises Klopfen holten mich in die Wirklichkeit zurück.
Ich fuhr mir kurz durch die Haare und antwortete:
»Ja klar, kommen Sie herein.«
Bea balancierte zu meiner Verwunderung ein Tablett.
»Da Sie gestern Abend erzählt haben, wie gern Sie Kaffee im Bett trinken, wollte ich Ihnen heute Morgen eine Freude machen. Als passionierte Teetrinkerin kenne ich mich leider nicht so gut mit Kaffee aus. Aber der gute Wille zählt. Ich hoffe, Sie mögen Friesenkekse«, sagte Bea augenzwinkernd und stellte das buntbemalte Holztablett neben mich auf den Nachttisch.
»Als ich das gesagt habe, war ich allerdings davon ausgegangen, dass ich ihn mir selbst mache«, entgegnete ich leicht beschämt. Ich wurde gerade verwöhnt wie in einem Fünf-Sterne-Hotel. Womit hatte ich mir das nur verdient?
»Ab morgen können Sie gern Ihren Kaffee selber machen, wenn Sie sich hier besser auskennen. Heute haben Sie noch Schonzeit.«
»Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?«, fragte ich, als Bea Anstalten machte, zu gehen. Sie lächelte erfreut und zog den dunkelblau gepolsterten Stuhl heran, der zum antiken Sekretär gehörte.
»Gute Idee. Dann muss ich nicht gleich die Pfanne auskratzen, in der mir die Spiegeleier angebrannt sind. Und, wie fühlen Sie sich? Haben Sie gut geschlafen?«
»Wie ein Murmeltier. Obwohl ich gestern schon um neun schlappgemacht habe.«
Bea lachte.
»Das liegt an der Luft hier. Sie macht hungrig und müde. Bei manchen dauert es Wochen, bis sie sich daran gewöhnt haben. Aber ab und zu ist es ja auch ganz gesund, früh ins Bett zu gehen. Was möchten Sie denn heute machen? Soll ich Ihnen die Insel zeigen, oder würden Sie lieber noch ein wenig für sich sein? Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie doch noch nie auf Sylt, oder?«
»Als Hamburgerin kaum zu glauben, ich weiß.« Ich lächelte und schwelgte genüsslich im Aroma des heißen, zartbitteren Kaffees. »Die Insel ist zwar nur den berühmten Katzensprung entfernt, aber es hat mich nie hierher verschlagen. Amrum und Föhr kenne ich allerdings recht gut. Vermutlich hatte ich Angst, hier zu vielen Kunden aus der Galerie zu begegnen. Apropos, die Hofgalerie in Morsum würde mich sehr interessieren. Wohnt dort nicht auch Ihre Freundin Vero?«
Bea nickte.
»Allerdings kommen Sie zu spät. Die Ausstellungsfläche musste dem Bau eines neuen Hotels weichen. Wie so vieles hier dem Tourismus Platz machen
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