Inselsommer
mich anstrahlte.
»Eigentlich in niemanden«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich hatte nur Lust, ein Herz zu malen.«
Das Mädchen stemmte seine kleinen Hände in die Hüften, legte den Kopf schräg und schaute mich ernst an.
»Dann bist du bestimmt sehr allein, nicht wahr? Ich bin in Tom verknallt und freue mich schon, wenn wir uns endlich wiedersehen. Blöd, dass gerade Ferien sind.«
»Aber Ferien auf Sylt zu machen ist doch toll«, widersprach ich und versuchte den Gedanken zu verscheuchen, ob ich wohl einen Jungen oder ein Mädchen bekommen hätte, wenn das Schicksal es gewollt hätte, dass ich Mutter geworden wäre. Vermutlich wäre ich eine bessere Mädchen-Mama gewesen, wie ich schon beim Zusammensein mit Vincents Tochter Lilly festgestellt hatte. Ob sie sich über meine Postkarte mit dem süßen Heuler vorne drauf gefreut hatte?
In dem Moment, als der Gedanke an Lilly zu schmerzen drohte, stürmte ein wuscheliger, junger Golden Retriever auf das Mädchen zu und bellte freudig, als er uns beide sah. Der Wind wehte die Worte »Komm, Lena, wir müssen weiter« über den Strand, und so verabschiedete ich mich von der Kleinen und winkte ihr noch lange hinterher, bis sie schließlich mit ihren Eltern den Strand verließ.
Ich ging weiter, bis ich an einen Abschnitt kam, der auf den ersten Blick verlassen wirkte. Mittlerweile hatte sich die Wetterlage beruhigt.
Eine dunkle Holztreppe führte über die Düne, unter und neben ihr befanden sich Formationen aus Beton, die vermutlich dem Küstenschutz dienten. Ich ging näher heran, um mir das Bollwerk gegen die Gewalt des Windes genauer anzusehen. Die Steine hatten die Form von Schiffsschrauben oder Mühlenflügeln, die ineinander verdreht und, flankiert von weiteren Betonpollern, eine lange, gräuliche Schnur bildeten, die parallel zum Meer verlief. Mein Blick folgte dieser Linie, bis ich weiter hinten am Horizont farbige, fröhlich im Wind flatternde Tücher entdeckte. Im ersten Moment dachte ich an Surfer, die Fahnen gehisst oder ihre bunte Kleidung zum Trocknen aufgehängt hatten. Doch als ich näher kam, sah ich eine Staffelei und daneben ein Klapptischchen mit Gläsern voll Wasser, Pinseln und einer Mischpalette mit Aquarellfarben, geschützt durch eine wetterfeste Plane. Ich war so erstaunt, dass ich die alte Dame beinahe übersehen hätte, die sich gerade hinter der Staffelei bückte. Als sie mich sah, schien sie eine Sekunde lang nervös zu werden. Doch ihr Gesicht entspannte sich wieder, als ich sie freundlich anlächelte. Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, sagte ich einfach: »Hallo.«
Die Frau trug einen Chignon-Knoten, aus dem sich durch den Wind einige Strähnen gelöst hatten. Sie hatte feine, beinahe aristokratische Gesichtszüge, was in seltsamem Kontrast zu ihrem langen, gebatikten Kleid und dem dunkelblauen Poncho stand. Ihre Füße steckten in schwarzen Schnürstiefeln. Sie sagte ebenfalls: »Hallo.«
Dann mussten wir beide lachen.
»Sie malen hier?«, wollte ich wissen, während ich nach Leinwänden oder fertigen Bildern Ausschau hielt.
»Zumindest versuche ich es«, lautete die Antwort. »Hier, wollen Sie mal sehen?« Unter dem mit einem Tuch verhangenen Tisch kamen zwei Bilder zum Vorschein.
Oder vielmehr Fragmente von Bildern auf Leinwand.
Momentan war nichts weiter zu sehen als wunderschöne, zarte Farbkompositionen, die allem Augenschein nach von den Farben des Himmels und des Meeres inspiriert worden waren.
Sehr gekonnt und mit viel Gespür aufgetragen.
»Die Natur ist das beste Vorbild und Atelier, das man sich wünschen kann, es sei denn, es beginnt zu regnen«, erklärte die Künstlerin. »Aber auch dafür gibt es Lösungen. Übrigens gestalte ich hier draußen nur die Hintergründe für meine eigentliche Arbeit.«
Neugierig fragte ich:
»Und woraus besteht Ihre
eigentliche
Arbeit?«
»Ich habe mich auf Porträts berühmter Frauen spezialisiert, die in meinen Augen die Welt verändert haben. Ich skizziere ihre Gesichter zunächst auf diesem Aquarellhintergrund, verstärke sie dann mit Tusche und verleihe ihnen anschließend Ausdruck durch unterschiedliche Applikationen wie Stoff, Schmuck, gepresste Blätter, Federn … also überwiegend Dinge, die ich am Strand finde.«
Ich spürte, wie mit jedem Wort ein vertrautes Gefühl von mir Besitz ergriff, das ich heute Morgen bereits verloren geglaubt hatte.
»Kann ich mir diese Arbeiten irgendwo ansehen?«, stieß ich atemlos vor Aufregung hervor. »Haben Sie
Weitere Kostenlose Bücher