Inselsommer
folgte Ineke in die
Stube,
wie sie ihr kleines, urgemütliches Wohnzimmer nannte. Hier stand – genau wie bei Vero – ein alter Kachelofen, auf dem eine schwarz-weiß gefleckte Katze döste. Ihre Schwanzspitze bewegte sich, als sei sie im Traum gerade auf der Jagd.
Vor dem Fenster war ein runder Tisch liebevoll mit einem weißen Spitzentischtuch und Teegeschirr im typischen blau-weißen Friesenmuster gedeckt.
»Ich habe uns Waffeln gebacken«, erklärte Ineke und bat mich, Platz zu nehmen.
Kurz darauf stellte sie eine Schüssel mit appetitlich duftenden Waffeln, ein Glas mit dunklem Pflaumenmus und ein Schälchen mit Schmand auf den Tisch.
»Der Puderzucker ist übrigens in diesem Streuer«, sagte sie und legte mir unaufgefordert zwei Waffeln auf den Teller. »Essen Sie sie, solange sie noch warm sind. Sie schmecken pur schon fantastisch, aber in der Kombination mit dem Mus und Schmand hören Sie die Englein im Himmel singen, das verspreche ich Ihnen.«
Genüsslich biss ich in die erste Waffel. Ineke hatte nicht zu viel versprochen. Gegen dieses Geschmackserlebnis hatten es selbst Veros Eierlikörpuffer und die Nussecken schwer. Meine Gastgeberin beobachtete jede meiner Bewegungen, aus wachen, haselnussbraunen Augen.
Dann schenkte sie uns beiden echten Friesentee ein, auch dieser hatte ein einzigartiges Aroma. Ich genoss jeden einzelnen Schluck.
»Wie lange leben Sie denn schon hier?«, wollte ich wissen, wobei ich viel lieber gefragt hätte, wie alt sie war und wie sie hier allein klarkam.
»Seit meiner Geburt, also seit genau fünfundachtzig Jahren. Wir Alwarts haben immer schon hier gewohnt. Leider gibt es mittlerweile nicht mehr viele von uns, aber ich danke Gott für jeden Tag, den ich hier verbringen darf. Ich könnte mir nicht vorstellen, jemals irgendwo anders zu leben.«
»Aber fühlen Sie sich denn nicht einsam? Es ist bestimmt sehr ruhig hier, sobald das Café geschlossen hat.«
So romantisch ich es im Wald auch fand, spätestens nachts hätte ich mich zu Tode gefürchtet. Das nächste Wohnhaus lag sicherlich zehn Minuten Fußweg entfernt. Was, wenn Ineke eines Tages etwas passierte und sie Hilfe brauchte?
»Ach, wissen Sie, Frau Gregorius, wenn man wie ich in seinem Leben schon viel Schlimmes erlebt hat, hat man irgendwann keine Angst mehr. Was soll hier geschehen? Die Tiere brauche ich nicht zu fürchten, die Menschen schon eher. Aber wir haben zum Glück kaum Kriminalität auf der Insel, und ich besitze keine Reichtümer, so dass sich ein Einbruch nicht lohnen würde. Außerdem passt mein Vater auf mich auf. Er liegt nebenan auf dem Friedhof der Gefallenen von Westerland.«
»Waren Sie denn jemals verheiratet? Leben Sie immer schon allein hier?«, hörte ich mich zu meinem Erstaunen fragen. Hoffentlich nahm Ineke mir meine Neugier nicht krumm.
Doch sie lächelte nur und sah einen Augenblick wie ein junges Mädchen aus. Sie war auch im Alter eine aparte Erscheinung, bestimmt war sie früher wunderschön gewesen.
»Nein, meine Liebe, nie. Nicht weil es an Verehrern gemangelt hätte, sondern weil ich mich nie binden wollte. Die Geschichte meiner Vorfahrinnen und so vieler Frauen zeigt, dass es nicht gut ist, sich einem Mann auszuliefern. Vor allem nicht, wenn man wie ich einen eigenen Kopf hat.«
»Haben Sie sich deshalb berühmte Frauen als Bildmotiv ausgesucht?«
»Unter anderem«, entgegnete Ineke und schaute mit nachdenklichem Gesichtsausdruck aus dem Fenster. »Ich möchte meinen persönlichen Heldinnen damit ein kleines Denkmal setzen, und sei es auch noch so bescheiden.«
Mittlerweile hielt ich es vor Spannung kaum noch aus und rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her.
Ineke lächelte und streichelte mir kurz über die Hand.
»Na los, kommen Sie mit, ich sehe doch, wie aufgeregt Sie sind!« Mit klopfendem Herzen folgte ich der Künstlerin und stieg zwei knarzende Etagen nach oben bis zum Dachboden. Zu meinem Erstaunen bewältigte Ineke die Stufen mühelos, wohingegen ich genau darauf achten musste, wo ich meine Füße auf die schmalen Stiegen setzte.
»So, da wären wir«, sagte sie schließlich mit einem gewissen Stolz in der Stimme. »Das ist der Ort, an dem meine Bilder entstehen.« Angesichts des diffusen Lichts blinzelte ich einen Moment. Durch die Fensterscheiben fielen Sonnenstrahlen und verliehen dem Reich der Künstlerin eine Art goldene Aura. Auf dem Dielenboden stapelten sich bespannte, teils noch leere Leinwände, an den Wänden hingen Aquarelle, Zeichnungen
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