Inselzauber
anderes übrig, als Schuhe und Mantel anzuziehen, während Timo erfreut an mir hochspringt und mich dabei fast umwirft. »In einer halben Stunde müsst ihr wieder da sein«, sagt meine Tante mahnend.
Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, dass Paula sich ein Marmeladenbrötchen schmiert und mir triumphierend die Zunge herausstreckt. Na warte, du Früchtchen, denke ich und zerre Timo hinaus in den kalten Wintermorgen.
Draußen ist es nicht nur kalt, es pfeift auch ein scharfer Wind – auf dieser Insel beinahe ein Dauerzustand. Unwillkürlich muss ich an den dummen Spruch denken, der da lautet: »Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung«, und ziehe fröstelnd meinen Wollmantel enger um mich. Für das Hamburger Wetter ist er optimal, aber für hier? Vermutlich muss ich mir einen dicken Parka besorgen, wie Leon einen anhatte, oder einen anderen wattierten Mantel, auch wenn ich damit mit Sicherheit aussehen werde wie die sprichwörtliche Wurst in der Pelle.
Überhaupt vermute ich, dass Sylt meinem Äußeren nicht besonders gut bekommen wird. Ich merke jetzt schon, wie die jodhaltige, frische Luft meinen Appetit anregt. Das war noch jedes Mal so, wenn ich hier war. Gestern Abend habe ich bereits eine Suppe und zwei Portionen Lammkeule mit provenzalischem Gemüse gegessen. In spätestens vier Wochen werde ich meine Kleider zwei Nummern größer benötigen, in Gummistiefeln herumstapfen, mir die Haare aus praktischen Erwägungen ausschließlich zum Zopf binden und zur friesischen Landpomeranze mutieren. Mein Magen knurrt, und ich denke sehnsuchtsvoll an das Brötchen, das sich Paula vorhin in den Mund gesteckt hat. MEIN Brötchen, um genau zu sein!
Während Timo und ich Seite an Seite die dunkle Straße zum Watt hinuntertrotten, begegnet uns ab und zu ein anderer Fußgänger und begrüßt uns mit einem fröhlichen »Moin«.
Das gefällt mir an den Inselbewohnern so gut. Egal, ob Fremder oder bester Freund. Egal, ob es regnet oder die Sonne scheint. Egal, wo und zu welcher Tages- und Nachtzeit man sich trifft. Ein freundliches »Moin«, begleitet von einem Nicken, ist das mindeste, was man als Gruß erwarten kann. Und natürlich erwidert man ihn gern.
Bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn man in Hamburg jeden grüßte, der einem begegnet, muss ich kichern. Dann käme man zu nichts anderem mehr. Man wäre andauernd mit Grüßen beschäftigt, und überall wäre es furchtbar laut, wenn diese permanenten »Hallos« durch die Luft schwirrten. Tja, auf so einer kleinen Insel ticken die Uhren und die Menschen wirklich anders. In manchen entlegenen Ecken sprechen die Bewohner sogar noch echtes Friesisch. Wenn ich als Kind mit Vero auf dem Markt war, konnte ich vor lauter Knack-, Krach- und Schluchzlauten kaum etwas verstehen und war immer völlig beeindruckt, dass sie genau das bekam, was sie haben wollte.
Bea hat es Gott sei Dank nicht mit dem Friesischen, auch wenn Knut diese Mundart als alter Seebär natürlich beherrscht hat.
Über dem Eingang des Kapitänshauses hängt ein Schild, auf dem steht »Rüm Hart, klaar Kimming«, was so viel bedeutet wie »Offenes Herz, klarer Horizont«. Ein Sinnspruch, der gut zu einem ehemaligen Seefahrer wie ihm passt und zudem zahllose Sylter Hauseingänge oder im Wind flatternde Fahnen ziert.
Meinen klaren Horizont trübt im nächsten Moment eine große, männliche Gestalt, die sich vor den Mond schiebt, der noch als schmale Sichel am dunklen Morgenhimmel hängt.
»Moin, Lissy, Moin, Timo, welch Überraschung. Ihr seid ja früh unterwegs!«
Kaum hat die unbekannte Silhouette ihren Morgengruß ausgesprochen, reißt Timo sich auch schon los, um an dem Fremden hochzuspringen. »Feiner Hund, braver Hund«, höre ich den morgendlichen Spaziergänger sagen, während ich einen besseren Blick auf ihn werfen kann.
Es ist Pastor Lorenz Petersen, der mich konfirmiert hat und von dem ich gehofft habe, dass er eines Tages Stefan und mich trauen würde.
»Moin, Lissy, hab schon gehört, dass du wieder auf der Insel bist und eine Weile bleiben willst. Aber wieso bist du zu dieser nachtschlafenden Zeit unterwegs? Seit ich dich kenne, hast du die Nase nie vor dem späten Vormittag vor die Tür gestreckt!«
Deshalb bin ich auch so manchem Sonntagsgottesdienst ferngeblieben, denke ich beschämt, während Lorenz mich so fest an seine Brust drückt, dass ich kaum Luft bekomme.
»Das tue ich nicht freiwillig, das können Sie mir glauben, Pastor«, antworte ich und versuche, mich wieder
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