Inselzauber
Gegebenheiten zu leben.
O mein Gott, ich muss mir unbedingt noch zeigen lassen, wie diese Öfen funktionieren, ärgere ich mich, während ich unter der Dusche allmählich auftaue. Ich bin mehr als froh, dass es wenigstens Warmwasser gibt. Doch Moment mal! Wie kann das sein?, wundere ich mich und beschließe, mit Bea nicht nur über Timos Unterbringung zu sprechen, sondern mir auch die Heizung erklären zu lassen. Und zwar rechtzeitig, bevor ich in ein Hotel umziehen muss, um nicht jämmerlich zu erfrieren.
»Wie gefällt dir eigentlich Leon?«, erkundigt sich meine Tante unvermittelt.
Wir sitzen inzwischen gemeinsam am Frühstückstisch, und ich bin im Geiste immer noch beim Thema Öfen. Wie soll ich bloß die schwere Kohle in den ersten Stock schleppen?, überlege ich, während ich etwas Kandis in meinen Tee gleiten lasse.
»Ich finde ihn ganz nett«, antworte ich, ohne lange zu überlegen. Leon ist sehr sympathisch, klug, witzig, offen – ein angenehmer Mensch, mit dem es Spaß macht, zusammen zu sein.
Jede weitere Ausführung zu diesem Thema erübrigt sich jedoch, weil es an der Tür klingelt und eine Frau (die Nachbarin?) ihre kleine Tochter bei uns abliefert.
»Das ist Paula«, klärt Bea mich auf, als ich verwundert registriere, mit welcher Selbstverständlichkeit das kleine Mädchen am Küchentisch Platz nimmt und meine Tante ihm einen heißen Kakao kredenzt. »Ich bringe Paula jeden Morgen zum Kindergarten«, fährt sie mit ihrer Erklärung fort.
Beinahe hätte ich mich an meinem Tee verschluckt. O nein! Bedeutet das etwa, dass ich morgens nicht nur Timo ausführen und alle Öfen befeuern, sondern auch noch dieses Mädchen zum Kindergarten bringen muss? Das ist selbst für jemanden, der danach nicht noch den ganzen Tag in der Buchhandlung stehen und abends die Abrechnung machen muss, ein volles Pensum. Dabei wird es Herausforderung genug sein, mich überhaupt in diesen für mich völlig fremden Beruf einzuarbeiten.
»Aber abgeholt wird sie schon, oder gehört das auch zu meinen Aufgaben?«, erkundige ich mich vorsichtig.
»Nein, keine Sorge, das macht Vero«, klärt Bea mich auf und wirkt, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass die kleine Paula offensichtlich fast komplett von meiner Tante und ihrer Freundin betreut wird.
»Was ist mit Paulas Mutter?«, frage ich irritiert und bin mir gleichzeitig nicht ganz sicher, ob ich die Antwort überhaupt hören möchte.
»Paulas Mutter ist alleinerziehend und arbeitet in Westerland als Kellnerin. Sie hat es nicht leicht, seit ihr Mann sie verlassen hat und auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist. Weil wir Tanja (aha, das muss wohl die Mutter der Kleinen sein!, denke ich) und Paula so gern mögen, helfen Vero und ich eben, so gut wir können.«
Ich sehe schon, ich habe nicht die geringste Ahnung von dem Leben, das meine Tante hier führt. Trotz zahlloser Telefonate habe ich wichtige Sachen offenbar nie erfahren. Merkwürdig! Was es wohl noch so alles gibt, wovon ich nichts weiß?
Neugierig und, wie ich finde, auch ein wenig feindselig beobachtet Paula mich mit gerunzelter Stirn, während sie ihren Kakao trinkt.
»Gehst du gern in den Kindergarten?«, frage ich sie – zugegeben nicht besonders originell – und kassiere prompt einen genervten Blick.
Ihr gedehntes »Hmm« lässt nicht einwandfrei darauf schließen, was sie meint. Aber ich bin momentan auch nicht in der Verfassung, Freundschaft mit einem Kind zu schließen, von dessen Existenz ich bislang noch nicht einmal etwas wusste.
»Wie alt bist du?«, frage ich beharrlich weiter, denn wenigstens das will ich verbindlich geklärt wissen.
»Paula ist gerade vier geworden. Nicht wahr, Schätzchen?«, antwortet Bea anstelle des Mädchens. Vorsichtig nimmt sie mit einem Löffel die Haut ab, die sich auf dem Kakao gebildet hat. Wie lieb und fürsorglich meine Tante sein kann, stelle ich mal wieder fest. Genau so hat sie es früher mit meiner heißen Schokolade auch immer gemacht.
»Wie soll ich eigentlich das mit dem Heizen handhaben?«, erkundige ich mich nun bei Bea, da Paula ganz offensichtlich nicht mit mir kommunizieren möchte.
»Das erkläre ich dir, wenn du von deinem Rundgang mit Timo zurück bist«, antwortet Bea. Dann drückt sie mir energisch die Hundeleine in die Hand und räumt mein Frühstücksgeschirr weg.
»Halt, stopp!«, protestiere ich, denn für mein Gefühl habe ich noch gar nichts gegessen.
Aber Bea sieht mahnend auf ihre Armbanduhr, und so bleibt mir nichts
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