Inselzauber
Ich entscheide mich gegen einen Rückzug, weil es mittlerweile in beide Richtungen gleich weit ist, und ziehe das Regencape an, in dem ich meiner Meinung nach aussehe wie Rumpelstilzchen. Auch Timo versucht sich vor dem Guss zu schützen, senkt den Kopf und schnüffelt am Boden herum.
Minuten später erreiche ich die Waldlichtung und sehe dort einen Sonnenstrahl durch die Bäume blitzen. In einigen Ästen hängen Spinnennetze, in denen die Regentropfen glitzern wie kleine Diamanten. Alles riecht nach feuchter Erde, und plötzlich habe ich gar nicht mehr das Gefühl, an der Nordsee zu sein.
»Hallo, Lissy, das ist ja eine Überraschung«, vernehme ich auf einmal eine mir vertraute Stimme.
Rasch streiche ich eine nasse Haarsträhne beiseite, um zu sehen, ob ich mit meiner Vermutung richtig liege.
Es ist tatsächlich Leon, der offensichtlich den gleichen Gedanken hatte wie ich. Ehe ich es mich versehe, steht er direkt vor mir und wischt mir einen Regentropfen von der Nasenspitze. Für eine Minute ist sein Gesicht ganz dicht an meinem, und ich blicke in die blauesten Augen der Welt.
»Du bist ja ganz nass«, sagt er und reicht mir ein Stofftaschentuch. »Hier, wisch dir das Gesicht ab, du Arme«, fügt er hinzu, und ich nehme seine Hilfe dankbar an.
Für eine Sekunde habe ich das Bild meines Vaters vor Augen, der mir immer, wenn ich als Kind geweint habe, ein Stofftaschentuch gab, das mit seinen Initialen bestickt war. Er war immer ein Gegner von Papiertaschentüchern gewesen, weil sie seiner Meinung nach zwar dazu taugen, sich die Nase zu putzen, aber nicht, um echte Tränen zu trocknen.
»Tränen muss man auffangen und aufbewahren. Denn Tränen sind wichtig. Man darf sie nicht einfach wegwerfen, sie sind ein Teil von einem selbst«, hatte er immer gesagt und das Taschentuch dann zum Trocknen auf die Heizung gelegt. »Siehst du, jetzt sind sie hier drin. Der Stoff ist nun äußerlich zwar trocken, aber in ihm wohnen deine Tränen. Und das ist auch gut so. Denn auch Tränen brauchen eine Heimat!«
»Danke«, antworte ich und gebe Leon das Taschentuch zurück. »Willst du auch zum Fährhaus?«, erkundige ich mich dann und deute mit dem Kopf Richtung Hafen.
»Ehrlich gesagt, komme ich da gerade her«, antwortet er.
Ich verspüre leises Bedauern, denn ich hätte Lust gehabt, mit ihm einen Kaffee trinken zu gehen, um ihm mein Verhalten am gestrigen Abend zu erklären.
»Wenn du nichts dagegen hast, begleite ich euch beide, schließlich muss ich die Gunst der Stunde nutzen, wenn ich dich hier schon treffe«, fährt er zu meiner Freude fort und streichelt Timo über das nasse Fell.
»Einen Schwarztee Vanille, einen Latte macchiato und eine Schale Wasser für den Hund bitte«, bestellt Leon ein paar Minuten später unsere Getränke, als wir im Wintergarten des Hotels Platz genommen haben.
Draußen wird es immer ungemütlicher, doch von drinnen hat man einen wunderbaren Blick auf den Hafen, auf das graue Meer und die hin und her schwankenden Boote. Versonnen starren wir beide aufs Wasser, und ich bin dankbar, dass Leon mich nicht mit Fragen nach dem gestrigen Abend löchert. Als ahnte er, wie peinlich mir mein Verhalten ist. Wir plaudern über dieses und jenes, und ich erzähle ihm alles, wofür wir gestern keine Zeit gehabt haben. Von den Umbauplänen des Möwennests, dem bevorstehenden Umzug meiner Freundin, davon, wie gut es läuft, seitdem Nele die Terrasse bestuhlt hat, und schließlich von meinem Entschluss, das Café mitzufinanzieren, und von meiner Einladung nach Mailand.
Eine nette Kellnerin serviert unsere Getränke, und als wir beide nach der Zuckerdose greifen, berühren sich unsere Hände für den Bruchteil einer Sekunde. Die kleine Geste durchfährt mich wie ein Stromschlag, und auch Leon sieht für einen Moment irritiert aus. Wie auf Kommando zucken wir beide zurück, bereit, dem anderen den Vorzug zu lassen.
»So bekommen wir beide keinen Zucker«, löst Leon schließlich lächelnd die Spannung und holt mit dem Löffel Kandis aus der Dose. »Ein Stück ist doch richtig?«, fragt er, und ich nicke. »Die meisten Frauen nehmen entweder gar keinen oder zwei Stück. Du bist die Erste, die das nicht so macht«, erklärt er.
Ich bin erfreut, dass er sich diese Kleinigkeit gemerkt hat.
»Bist du dir wirklich sicher, dass du nicht auf Sylt bleiben willst?«, fragt er und sieht mich mit unergründlichem Blick an. »Du hast dich hier gut eingelebt. Der Job in der Bücherkoje macht dir Spaß, du verstehst
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