Inselzauber
ein. Am späten Nachmittag – bei der fünften Fuhre mit den Möbeln aus Neles Atelier – hilft auch Leon mit, der sich ebenfalls ein paar Stunden freigenommen hat, um uns zur Seite zu stehen. Ermüdet machen wir uns am frühen Abend über Veros Chili con Carne her.
Ich bin den ganzen Tag schon vollkommen durcheinander und den anderen vermutlich keine besonders große Hilfe beim Umzug. Zu sehr geistert mir meine neu gewonnene Erkenntnis in Bezug auf Leon im Kopf herum. Bereits am frühen Morgen hat mein Herz wie wild bei der Aussicht gepocht, ihn nachmittags zu sehen. Als es schließlich so weit war, habe ich mich vor lauter Aufregung ins Bad verkrümelt. Dort habe ich mich mindestens eine halbe Stunde damit aufgehalten, immer wieder mein Spiegelbild zu überprüfen, und mir gut zugeredet, dass es keinen Anlass zur Nervosität gebe.
Doch jetzt bin ich nervös, SEHR sogar. Immer wieder geistern mir Bilder von unseren gemeinsamen Erlebnissen durch den Kopf: das romantische Strandpicknick im Winter, der Einbruch in Neles Wohnung, die Fahrradtour nach Rantum, unser erstes Treffen im Kapitänshaus, das gemeinsame Schwimmen mit Paula. Seit ein paar Tagen besteht meine Lieblingsbeschäftigung darin, mir minutiös jede unserer Begegnungen ins Gedächtnis zu rufen. Ich bewerte jedes Wort, jede noch so kleine Geste und versuche mir darüber klar zu werden, weshalb ich nicht schon viel früher bemerkt habe, was mich nun mit voller Wucht getroffen hat: die Erkenntnis, dass ich mich mit Haut und Haar in Leon verliebt habe.
Ich spüre noch immer seine Nähe, als er mir am Watt die Regenspuren vom Gesicht getupft hat, habe den Duft seines Eau de Toilette in der Nase und wünsche mir momentan nichts sehnlicher, als endlich in seinen Armen zu liegen. Doch genau an diesem Punkt schrillen meine Alarmglocken alle auf einmal.
Erstens habe ich keine Ahnung, ob Leon auch nur im Ansatz dasselbe für mich empfindet. Schließlich hat er mir vor einiger Zeit angedeutet, dass es jemanden gibt, für den er sich interessiert. Und kurz danach ist diese Katharina aufgetaucht. Zweitens denke ich, dass er sicher noch nicht über die Trennung von Julia hinweg ist, auch wenn er sich das selbst vielleicht nicht eingestehen will. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sehr ihn ihr Betrug verletzt hat und wie traurig er am Tag unserer Radtour war. Drittens denke ich, dass ich selbst noch nicht bereit für eine neue Liebe bin. Immerhin habe ich mich gerade entschlossen, nach Mailand zu gehen, falls ich die Stelle im Hotel bekomme. Und Mailand–Sylt ist eine viel zu große Distanz, da mache ich mir überhaupt nichts vor.
All das schießt mir durch den Kopf, während wir am Esstisch sitzen und Leon mit Ole plaudert, den ich ebenfalls zum Essen eingeladen habe. Nele ist völlig überdreht und kann kaum still sitzen. Blairwitch ist nach langem Zögern endlich aus ihrem Katzenkorb gekrochen und angesichts der ihr fremden Umgebung mindestens ebenso durcheinander wie ihr Frauchen. Timo ist mit Bea in der Bücherkoje – das Aufeinandertreffen der beiden Tiere steht uns also noch bevor.
Ich bin froh, dass Leon völlig in das Gespräch mit Ole vertieft ist. Auf diese Weise habe ich Gelegenheit, ihn in aller Ruhe zu beobachten. Sein attraktives Profil, die kleinen Lachfalten um die Augen, sein welliges Haar, das allmählich mal geschnitten werden müsste, seine schmalen, gepflegten Hände, die mit dem Glas spielen. Seine breiten Schultern, die in mir sofort das Bedürfnis wecken, mich an sie zu lehnen, und nicht zuletzt seine Lippen, von denen ich gern endlich geküsst werden möchte.
Während ich in meinen Träumereien versinke, entschwindet Nele mit der Bemerkung, sie wolle weiter auspacken, in Richtung ihres Zimmers und ruft eine Viertelstunde später nach Leon. Ich stutze für einen Moment, werde jedoch umgehend von Ole mit Beschlag belegt, der sich nach meinen Italien-Plänen erkundigt. Unfassbar, wie schnell sich das wieder herumgesprochen hat! Ich unterrichte unseren Nachbarn über den neuesten Stand der Dinge, bin jedoch nicht recht bei der Sache, weil Leon für meinen Geschmack einen Moment zu lange in Neles Zimmer bleibt.
Was die beiden wohl machen?, frage ich mich und überlege, wie ich meine Unterhaltung möglichst schnell beenden kann. Doch ich habe Glück. Ole verabschiedet sich, weil er sich ein wichtiges Fußballspiel im Fernsehen ansehen will, und nachdem ich ihn zur Tür begleitet habe, beschließe ich nachzusehen, was meine Freundin
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