Inselzauber
Tagen immer wieder darin gelesen habe. Ich überlege kurz, was ich tun soll: mir einen zweiten Film ansehen, eine Liste mit Neujahrsvorsätzen anfertigen oder in die Buchhandlung fahren, um das Buch zu holen. Gegen Letzteres spricht, dass ich bereits einige Gläser Wein getrunken habe. Ich entscheide mich dennoch für Charlotte Link, schwinge mich aber auf Beas Fahrrad, anstatt zu riskieren, dass sie mich mit dem Jeep erwischen.
Eingemummelt in alles, was ich an Kleidern in der Hektik finden kann, erreiche ich zehn Minuten später die Bücherkoje und hechte die Treppen hinauf zum Pausenraum, denn ich möchte natürlich pünktlich um 23.55 Uhr zu Hause sein, um den Champagner zu entkorken. Kaum habe ich das Buch gefunden, renne ich wieder hinunter und schließe in Windeseile die Tür ab.
Dann gehe ich plötzlich – ich habe keine Ahnung, weshalb – nach nebenan, um einen Blick ins Möwennest zu werfen. Was an sich blanker Unsinn ist, weil ich es zum einen eilig habe und das Café zum anderen an diesem Tag mit Sicherheit geschlossen ist. Schließlich ist Nele ja auf der Party im Samoa-Seepferdchen. Durch das Fenster erkenne ich einen schwachen Schein im hinteren Teil des Raumes und wundere mich. Wer außer Nele kann sich um diese Uhrzeit und an einem solchen Tag im Café aufhalten? Soweit ich weiß, gibt es keine Angestellten, und sie selbst ist in Rantum. Ob sie einfach nur vergessen hat, das Licht auszumachen?
Während ich über mögliche Ursachen sinniere, erkenne ich auf einmal die Silhouette eines Menschen, die im Halbdunkel auf und ab geht. Das finde ich nun wirklich unheimlich und überlege, was ich jetzt tun soll. Die Polizei benachrichtigen? Selbst nachsehen? Leon auf dem Handy anrufen, damit er Nele Bescheid gibt? Irgendetwas muss ich auf alle Fälle unternehmen, denn so unsympathisch mir die Frau auch ist, sosehr empfinde ich es als meine nachbarschaftliche Pflicht, einen mutmaßlichen Einbruch zu verhindern. Dasselbe würde sie sicher auch für mich respektive für Bea tun, oder nicht? Ich zücke mein Handy und will soeben Leons Namen eingeben, da erkenne ich, dass es sich bei der Person im Möwennest um eine Frau handelt. Um eine Frau mit langen Haaren.
Sie begibt sich nun zum Sofa und setzt sich darauf. DAS würde mit Sicherheit kein Einbrecher tun. Etwas weniger ängstlich, dafür umso neugieriger gehe ich näher an die Fensterscheibe heran und versuche zu erkennen, was sich da im Inneren des Cafés abspielt. Mittlerweile haben sich meine Augen etwas besser an das diffuse Licht gewöhnt, und jetzt kann ich es sehen: Es ist Nele, die da auf dem Sofa sitzt, mutterseelenallein. Sie verschränkt die Arme auf dem Schoß und legt den Kopf darauf. Fast sieht es aus, als ob sie …
In der Tat. Auch Nele scheint es heute Nacht nicht besonders gut zu gehen, denn nun sehe ich, dass es ihren Körper genauso schüttelt, wie es noch vor einer halben Stunde bei mir der Fall war. Sie weint sich offenbar genauso die Seele aus dem Leib, wie ich es bis eben getan habe. Erstaunt registriere ich, dass ich so etwas wie Mitleid empfinde, auch wenn ich diese Frau weder kenne noch mag. Aber irgendwie rührt mich ihr Anblick, und ich verspüre den spontanen Impuls, sie in den Arm zu nehmen.
Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, was ich da tue, klopfe ich auch schon gegen die Fensterscheibe. Beim ersten Mal registriert Nele mich nicht, aber nachdem ich beharrlich weiterklopfe, hebt sie auf einmal den Kopf und sieht in meine Richtung. Für einen Moment denke ich, dass sie mich ignorieren wird, doch dann höre ich, wie sich der Schlüssel im Türschloss dreht. Vor mir steht eine vollkommen verheulte Nele, das einst so kunstvolle Make-up völlig verschmiert, die Haare zerzaust, mit verwundertem Gesichtsausdruck, als sie erkennt, dass ICH es bin, die da geklopft hat.
»Was wollen Sie hier? Sie sehen doch, dass geschlossen ist«, sagt sie in einem barschen Ton, der allerdings gar nicht zu ihrer Mimik passt. Sie hat die Augen weit aufgerissen, was durch den verschmierten schwarzen Kajal geheimnisvoll betont wird. Auch in diesem Zustand ist sie zweifelsohne sehr attraktiv, das muss ich neidlos anerkennen!
»Ich dachte im ersten Moment, dass hier gerade eingebrochen wird«, entgegne ich in einem schärferen Ton als beabsichtigt.
So funkeln wir uns erneut an, und ich habe das fatale Gefühl, als erlebte ich unsere erste Begegnung noch einmal.
»Aha, und da dachtest du dir, du klopfst mal, um nett mit dem Einbrecher zu
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