Inselzauber
gehen.
Am späten Nachmittag des darauffolgenden Tages schließen Birgit Stade und ich die Bücherkoje ab und verabschieden uns mit gegenseitigen Wünschen für einen guten Start ins neue Jahr. Meine Kollegin feiert bei ihrer Tochter in Archsum, und ich mache mich mit meinen Einkäufen und Timo auf den Weg zum Kapitänshaus. Im Briefkasten finde ich eine Postkarte von Bea und Vero, die sie offensichtlich in Miami abgeschickt haben.
Es ist eine Abbildung der »Columbus«, und ich kann nicht umhin zu überlegen, wie die beiden wohl mit den Gepflogenheiten auf einem noblen Kreuzfahrtschiff klarkommen. Die Süßen, denke ich und schmunzle bei dem Gedanken, dass die beiden vielleicht beim Kapitänsdinner sein werden, und frage mich, wie Silvester auf so einem Schiff gefeiert wird. Ob man Raketen ins offene Meer hinausschießen darf? Oder denken dann die anderen Schiffe, dass es sich um einen Notruf handelt?
Gegen 20.00 Uhr durchforste ich Beas Videobestände (nein, hier gibt es noch keinen DVD -Player!) nach einem geeigneten Film, denn im Fernsehen kommt nur Mist. Irgendwie will ich noch nicht mit dem Fondue beginnen, weil der Abend sonst unerträglich lang wird. Denn jetzt, da ich tatsächlich allein bin, verlässt mich all mein Mut, und ich ärgere mich, dass ich nicht doch zu der Samoa-Party gehe.
Andererseits ist mir nach allem zumute, nur nicht danach, mit dieser zickigen Kuh von Nele gemeinsam am selben Ort ins neue Jahr zu feiern. Es reicht mir schon, dass ich sie heute – bepackt mit mehreren Einkaufstüten und arrogant in den Wind gestrecktem Kinn – an der Bücherkoje habe vorbeirauschen sehen. Ich durchwühle Beas Kassetten und finde schließlich das Passende.
High Society
mit Grace Kelly, Bing Crosby und Frank Sinatra. Einen meiner absoluten Lieblingsfilme!
»Damit wäre der Abend gerettet«, murmle ich vor mich hin, während ich mich in eine Decke gewickelt an den Kachelofen setze und mir ein Glas Rotwein einschenke. Nach dem Film, der mich tatsächlich abgelenkt hat (es ist jetzt 22.00 Uhr), erhitze ich ein wenig Biskin im Fonduetopf, hole das kleingeschnittene Fleisch aus dem Kühlschrank, wobei Timo jeden meiner Schritte genauestens verfolgt, und beginne, mir einen Salat zu machen. Um 22.30 Uhr sitze ich am Esstisch, habe Kerzen angezündet, Timo zu meinen Füßen und Brahms als musikalische Untermalung.
Stück für Stück tauche ich meine Fleischwürfel in das siedend heiße Fett und beglückwünsche mich dazu, alle Fonduegabeln für mich allein zu haben. Keiner, der mich stört und behauptet, seine Gabel sei die mit dem roten Punkt, obwohl das glatt gelogen ist. Ich trinke noch ein Glas Wein und freue mich schon auf die Piccolo-Flasche Veuve Cliquot, die ich mir zur Feier des Tages gönnen werde. Zur Feier meiner neu erworbenen Freiheit, auch wenn ich sie nicht ganz freiwillig erlangt habe.
Ich trinke immer zügiger, vergesse dabei fast mein Fleisch und beschließe, im nächsten Jahr ein vollkommen neuer Mensch zu werden. Um 23.00 Uhr überlege ich zu studieren (nur was?), um 23.05 Uhr erwäge ich, nach Italien (Venedig?) auszuwandern, und um 23.10 Uhr breche ich in Tränen aus. Während es mich schüttelt und ich das Gefühl habe, nie wieder mit dem Weinen aufhören zu können, sagt eine mahnende Stimme in mir, dass es jetzt an der Zeit ist, den Anfall von Selbstmitleid zu unterbrechen und mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Aber worauf? Was könnte so stark sein, sich gegen meine Silvesterdepression durchzusetzen? Ein spannender Film? Ein spannendes Buch?
Dabei fällt mir ein, dass ich noch immer nicht weiß, ob die arme, von ihrem psychopathischen Ex-Lover verfolgte Heldin des Buches von Charlotte Link überlebt. Plötzlich erscheint es mir furchtbar wichtig, zu wissen, wie die Geschichte endet. Ich bilde mir ein, in ihrem Ende so etwas wie ein Zeichen sehen zu können. Wenn SIE es schafft, aus einer scheinbar ausweglosen Situation herauszukommen, werde ich es ihr gleichtun.
Beschwingt von der Aussicht, etwas bewegen zu können, erklimme ich die Stufen nach oben in mein Zimmer in Windeseile. Timo, der schon eine Weile vor dem Kachelofen geschlummert hat, hebt kurz den Kopf, um gleich darauf wieder einzudösen. Sicher träumt er von seiner Hundedame, die wir seit dem ersten Rendezvous noch ein-, zweimal getroffen haben. Oben angekommen, stelle ich jedoch fest, dass das Buch nicht da ist.
Mist, ich habe es offensichtlich im Pausenraum der Bücherkoje liegenlassen, wo ich in den letzten
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