Inselzauber
plaudern«, entgegnet Nele spöttisch, und ich registriere verwundert, dass sie mich auf einmal duzt. »Ist das dein Hobby, Verbrecherjagd?«, fragt sie und geht wieder ins Café zurück, lässt jedoch die Tür einen Spalt geöffnet, was ich als Einladung werte.
»Nein, eigentlich nicht«, entgegne ich, während ich die Handschuhe abstreife und die Mütze abnehme. »Aber als ich gesehen habe, dass du hier sitzt und weinst, wollte ich zumindest mal fragen, ob ich dir irgendwie helfen kann. Was machst du eigentlich um diese Zeit hier? Ich dachte, du bist in Rantum, auf der Samoa-Party?«
»Das dachte ich auch«, entgegnet Nele und deutet mir mit einer Kopfbewegung an, Platz zu nehmen. »Möchtest du was trinken?«
Bevor ich antworte, werfe ich einen Blick auf die Uhr. Mist, es ist 23.50 Uhr. Nun schaffe ich es auf keinen Fall, pünktlich um Mitternacht mit meinem Schampus auf das neue Jahr anzustoßen. Auch Nele sieht auf die Uhr, scheinbar verwundert, bis sie sich jedoch wieder fängt und mich anlächelt. Zum ersten Mal, seit ich sie kenne.
»Wie sieht’s aus, Lissy? Es ist kurz vor Mitternacht, wir haben offensichtlich beide keine Verabredung. Soll ich uns eine Flasche Champagner holen, und wir feiern hier zu zweit das neue Jahr?«
Ich kann nur stumm nicken, so skurril finde ich die Situation, und schon ist Nele in Richtung Küche verschwunden. Fünf Minuten später ist sie wieder da und balanciert zwei wunderschöne Gläser und eine Flasche Dom Perignon, dazu zwei Schalen voller Chips und Erdnussflips auf einem Tablett. Sie schaltet das Radio ein, damit wir den Jahreswechsel nicht verpassen. Andächtig sitzen wir beide im Kerzenschein nebeneinander auf dem Sofa und lauschen der Musik, bis es so weit ist. Punkt 24.00 Uhr fallen wir uns spontan in die Arme.
»Frohes neues Jahr«, sage ich und proste Nele zu.
»Auf ein besseres als das vergangene«, antwortet sie, und ich sehe erneut Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern. Doch der melancholische Moment währt nur kurz, dann springt sie auf, um Raketen zu holen.
»Du willst doch nicht wirklich?«, protestiere ich.
Doch sie zerrt mich vor das Möwennest, steckt zwei Raketen in zwei leere Flaschen und drückt mir einen Zettel samt Stift in die Hand.
»Hier, schreib auf, was du alles zum Teufel schicken willst. Wenn du damit fertig bist, befestigen wir den Zettel an der Rakete, und dann kannst du den ganzen Mist im wahrsten Sinne des Wortes auf den Mond schießen«, erklärt Nele.
Ich finde, dass das eine ziemlich gute Idee ist, und brauche nicht lange, um mir zu überlegen, was ich auf den Zettel schreibe. Es sind nur drei Wörter – doch die sagen alles. »Mein bisheriges Leben«, schreibe ich und sehe dann zu, wie Nele den Zettel mit einer Reißzwecke an meine Rakete heftet.
Anschließend ist sie dran, und auch sie scheint nicht lange nachdenken zu müssen. Eine Minute später entzündet sie beide Raketen, und als diese mit viel Getöse in die Mondnacht zischen, ruft Nele mit lauter Stimme: »Blödes Jahr, verpiss dich, kein Mensch vermisst dich!«
Ich muss kichern, weil ich die ganze Situation rasend komisch finde. »Und du meinst, das hilft?«, frage ich amüsiert, während ich einen weiteren Schluck Champagner trinke, den Nele wohlweislich mit hinausgenommen hat.
Ein bisschen Angst habe ich schon, dass wir erwischt werden oder dass eine der Raketen versehentlich ein Reetdach getroffen hat. Da es aber nicht angebrannt riecht und es nirgendwo zu lodern beginnt, entspanne ich mich wieder und folge Nele ins Möwennest, nicht ohne jedoch die beiden leeren Flaschen mitzunehmen, quasi die Startrampen für unser Spaceshuttle. Ich muss dringend daran arbeiten, weniger brav und ängstlich zu sein, nehme ich mir vor und setze mich wieder auf das Sofa.
»Was hast du denn zum Mond geschossen?«, frage ich vorsichtig und mustere Nele, die an ihrem Schampus nippt und trotz der befreienden Aktion wenig glücklich aussieht.
»Das Möwennest«, antwortet sie knapp.
Neugierig lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Ich persönlich kann hier nichts Falsches entdecken und schon gar nichts, das so schlimm wäre, es auf den Mond schießen zu müssen.
»Besser gesagt mich selbst«, fährt Nele mit ihrer Erklärung fort und füllt erneut unsere Gläser.
Allmählich spüre ich, wie mir der Champagner in den Kopf steigt. Er bewirkt allerdings keine wohlige Mattigkeit, die Körper und Seele gnädig einlullt, wie schwerer Rotwein, sondern ist im Gegenteil absolut
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