Inselzauber
neuen Jahres beschäftigt, mit dem Unterschied, dass sie sich selbst die Zukunft voraussagen kann und nicht auf Horoskope in Zeitschriften angewiesen ist.
Am Tisch in der Nähe des Kamins sitzt eine Familie mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, das immer wieder sehnsüchtig zu Timo hinübersieht. Doch der schlummert ungerührt vor sich hin und hängt seinen Hundeträumen nach. Die Mutter lässt gerade braunen Kandis in ihren Tee gleiten, ihr Mann streichelt ihr währenddessen liebevoll über den Arm. Beide wechseln zärtliche Blicke und wenden sich dann wieder ihren Kindern zu, die Nele zuvor mit Buntstiften und Papier versorgt hat.
Diese Idylle bringt mich für Sekunden wieder aus dem Gleichgewicht, weil sich für einen Moment mein und Stefans Gesicht vor die Köpfe der beiden mir fremden Menschen schiebt. Wir hatten uns auch Kinder gewünscht, jedoch beschlossen, noch zu warten, bis Stefans Praxis laufen würde und er sich als Kardiologe etabliert hätte. Diesen Zeitpunkt hatte Melanie nun nicht mehr abwarten müssen.
»Na, alles in Ordnung mit dir? Du hast gerade so traurig ausgesehen«, unterbricht auf einmal Nele meine Gedanken. Sie nimmt ihre Katze von meinem Schoß und räumt meinen leeren Teller und den Becher ab. »Ich schließe in einer halben Stunde. Hast du Lust, noch einen Moment hierzubleiben?«
Ich überlege kurz, aber mir will kein Grund einfallen, der dagegen spricht. Heute habe ich noch frei, bevor es morgen mit der Inventur losgeht. Und Timo habe ich auch dabei, mit dem können wir dann vielleicht noch zu zweit Gassi gehen. »Gern«, antworte ich daher und hole mir eine weitere Zeitschrift, um die Wartezeit zu überbrücken.
Als die letzten Gäste gegangen sind und Nele abgeschlossen hat, zücke ich mein Portemonnaie, um mein Getränk und den Kuchen zu bezahlen.
»Lass mal, das geht aufs Haus«, winkt Nele ab und setzt sich zu mir.
Ich protestiere energisch, habe jedoch keine Chance. »Hast du eigentlich viele Stammgäste?«, frage ich, weil ich sie dabei beobachtet habe, wie sie zumindest mit dem scheinbar Kreativen und der Kräuterhexe sehr vertraut wirkte, und ich – wenn ich genau darüber nachdenke – auch nicht gesehen habe, dass die beiden bezahlt hätten. Ob ich damit wohl schon einem Teil des Problems auf der Spur bin?
»Ja, doch, kann man so sagen«, antwortet Nele und zieht einen weiteren Stuhl zu sich heran, auf den sie ihre Füße legt. Kein Wunder, sie war ja auch den ganzen Tag auf den Beinen. »Valentin und Carola zum Beispiel, die du sicher bemerkt hast. Der grauhaarige, gutaussehende Mann und die rothaarige Hexe. Die beiden sind von Anfang an hier gewesen. Valentin nicht so häufig, weil er als Fotograf viel unterwegs ist (aha, Fotograf also!), aber Carola kommt fast jeden Tag. Genauso wie viele andere, die allerdings meist unter der Woche da sind. Die wirst du im Laufe der Zeit sicher auch noch alle kennenlernen. Das wird dir die Eingewöhnungsphase hier ein bisschen erleichtern.«
»Dieser Valentin«, frage ich weiter nach, nun doch sehr neugierig, »kennst du den irgendwie« – ich stocke leicht – »näher?«
»Wenn du wissen willst, ob ich mit ihm im Bett war, dann kann ich nur sagen: Ja, war ich. Und nicht nur einmal. Ist ein ganz guter Typ, kann ich nur empfehlen, wenn du mal Lust auf unverbindlichen Sex hast. Du darfst dich nur nicht in ihn verlieben, denn dann löst er sich schneller in Luft auf als die Sandformationen, die er fotografiert, wenn der Wind sie umpustet.«
Für einen Moment bin ich schockiert von Neles offener, unverblümter Art und Ausdrucksweise. Andererseits passt es zu ihr, denn wenn Nele eines ist, dann direkt. Sie wirkt sehr selbständig und unabhängig. Und das trotz der offensichtlichen Verletzbarkeit, die offenbar ebenso zu ihr gehört. Abgesehen davon ist sie eine attraktive Frau, die ganz bestimmt viele Männer fasziniert. Mit ihren roten Locken, den grünen, leicht schräg stehenden Augen, den hohen Wangenknochen und der zierlichen Figur ist sie sicher der Traum eines jeden Mannes, der sich von ungewöhnlichen Frauen angezogen fühlt.
»Ist er der Mann, der dir Liebeskummer bereitet hat?«, frage ich neugierig, da Nele kein Problem mit derartigen Themen zu haben scheint.
»Liebeskummer?«, lacht sie und pustet in den Schaum ihres Milchkaffees, den sie sich mitgebracht hat. »Wegen Valentin? Nein, ganz sicher nicht. Der ist okay, wir können ganz gut reden, haben Spaß im Bett, und er hilft mir ab und zu, wenn ich
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