Inselzauber
wenig abzulenken, überlege ich, wie es Nele wohl heute geht und was sie macht. Ob überhaupt irgendjemand an diesem Tag ins Möwennest geht? Die meisten Sylter sind sicher in Westerland und sehen beim Neujahrs-nacktbaden zu. Beim Gedanken an das eiskalte Wasser schüttelt es mich dermaßen, dass ich beschließe, einen heißen Kakao trinken zu gehen. »Komm, Timo, lass die armen Möwen in Ruhe«, rufe ich dem Hund zu, der augenblicklich kehrtmacht und brav hinter mir hertrottet.
Ohne ein besonderes Ziel vor Augen, gehe ich weiter ins Dorf und lande, wie von Zauberhand geführt, vor dem hell erleuchteten Möwennest. Mittlerweile ist es wieder dunkel, und die Kerzen im Café und der prasselnde Kamin sehen so einladend aus, dass ich eintrete. In der Tat sind ein paar Gäste da und sitzen vor heißen Getränken und riesigen Kuchenstücken. Im Hintergrund läuft klassische Musik, es ist also alles so, wie es in einem schönen Café sein soll. Es ist mir absolut schleierhaft, weshalb das Möwennest oder besser Nele in solchen finanziellen Schwierigkeiten steckt.
»Hallo, schön, dich zu sehen«, ruft sie, als sie Timo und mich entdeckt, und strahlt mich an. »Komm, setz dich, du siehst ganz verfroren aus.«
Nachdem ich Platz genommen habe, eilt Nele auch schon weiter zu den anderen Gästen, und ich beobachte sie, wie sie mit leicht geröteten Wangen und stark gestikulierend kommuniziert. Es sieht ganz danach aus, als würde ihr der Job Spaß machen.
Neugierig studiere ich die Karte. Auch da ist alles drauf, was man sich von einem Café erwartet. Ich entscheide mich für einen Chai Latte aus Sojamilch und einen Rüblikuchen, vermutlich werde ich heute sowieso das Abendessen ausfallen lassen. Nachdem Nele die Bestellung aufgenommen hat, schnappe ich mir aus dem Zeitschriftenhalter an der Wand eine
Brigitte
. Ah, das Jahreshoroskop, wie passend!
Begierig, zu erfahren, was das neue Jahr mir bringen wird, sauge ich den Text auf. Da steht etwas von großen Veränderungen (ach!), einem möglichen Ortswechsel (aha!), einem inneren Reifungsprozess (auch gut, vermutlich sogar notwendig!) und einem Jahr, das viel Geduld erfordert (o nein!), ebenso wie viel Mut, Phantasie und Kreativität. Ob am Ende alles gut wird, entscheidet wie immer, ob man etwas aus den Chancen macht, die sich einem bieten, oder nicht.
Na super, denke ich und lasse die Zeitschrift sinken. Das klingt jedes Mal toll und unglaublich wichtig, aber am Ende ist doch alles austauschbar und ähnelt fatal dem, was bereits im vorigen Jahr an derselben Stelle stand. Ich werde also wie immer alles auf mich zukommen lassen müssen.
Nachdem ich den ausgezeichnet schmeckenden Kuchen gegessen habe und Timo seinen Wassernapf, den Nele ihm gebracht hat, leer geschlabbert hat, kommt Blairwitch angeschlichen, um kurz darauf auf meinen Schoß zu springen und sich dort gemütlich zusammenzurollen. Erstaunlich, dass Timo und die Katze sich gegenseitig in Ruhe lassen und sich nicht benehmen, wie ihre Artgenossen dies normalerweise tun. Aber vermutlich liegt das auch daran, dass die beiden Tiere sich als »Nachbarn« schon länger kennen. Trotz allen Friedens glaube ich einen leicht vorwurfsvollen Blick von Timo zu kassieren, der es sich dann allerdings ebenfalls bequem macht und einen Nachmittagsschlaf einlegt.
Ob Tiere eifersüchtig sein können?, überlege ich und rühre gedankenverloren in meinem Chai Latte. Dann beobachte ich die Besucher des Cafés, überwiegend jüngeres Publikum. Die älteren Leute zieht es vermutlich in die traditionelleren Sylter Cafés, in denen die Welt noch friesisch-blau und damit in Ordnung ist. Ob das ein Teil des Möwennest-Problems ist?
Ein interessant aussehender Mann Mitte vierzig mit graumelierten, nach hinten gekämmten welligen Haaren, der einen Zigarillo raucht und Espresso trinkt, blättert in der
GEO
Saison.
Er sieht aus, als sei er Künstler. Vielleicht ein Autor. Oder aber auch nur ein einfacher Beamter, der einen auf interessant macht …
Einen Tisch weiter sitzt eine etwas verlebt aussehende Frau Ende fünfzig, Anfang sechzig, mit verfilzten knallroten Haaren, einem bodenlangen Batikrock und einer offensichtlich selbstgestrickten Jacke. Sie trinkt etwas, was nach frischem Minztee aussieht, und erinnert entfernt an eine Kräuterhexe. Vor ihr auf dem Tisch liegen Karten, vermutlich Tarot, die sie immer wieder aufmerksam mustert und eine nach der anderen aufdeckt. Vielleicht ist sie auch gerade mit ihrer persönlichen Deutung des
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