Inselzauber
neues Jahr wünschen wollen, denke ich und tapse verschlafen nach unten. Timo folgt mir hechelnd auf den Fersen, und ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, weil er sicher längst Gassi gehen muss. 14.00 Uhr, stelle ich entsetzt fest und sehe den Hund entschuldigend an, während ich den Hörer abnehme.
Doch es ist nicht meine Tante, wie erwartet, sondern Leon, offensichtlich völlig ausgeruht und putzmunter. Wie angekündigt, möchte er gern einen Neujahrsspaziergang mit mir machen. Müde gähne ich in den Hörer und erschrecke mich gleichzeitig beim Anblick meines Gesichts im Spiegel, der über der Konsole mit dem Telefon hängt. Ich sehe aus, als hätte ich die ganze Nacht kein Auge zugetan, sondern durchgetrunken. Meine Haare hängen kraftlos und stumpf an mir herunter, und ich bin leichenblass, bis auf ein Paar eindrucksvoller Augenringe, die zumindest etwas Farbkontrast in mein Gesicht bringen. In DEM Zustand kann ich mich auf gar keinen Fall präsentieren, denke ich und laviere mich mit der Begründung, ich hätte Kopfschmerzen (was irgendwie auch stimmt) aus der Verabredung heraus, was Leon mit einem bedauernden »Schade. Gute Besserung, bis morgen« quittiert.
Nach einem kurzen Frühstück schlüpfe ich in meinen neuen Parka und mache mich mit dem Hund auf den Weg zum Watt. Es ist ein sonniger, klarer und kalter Tag, eigentlich genau das richtige Wetter, um Kopf und Seele durchzulüften. Timo ist begeistert, endlich nach draußen zu dürfen, und begrüßt jeden Baum, jeden Fahrradfahrer und jeden Spaziergänger mit Schwanzwedeln und freudigem Gebell. Am Watt angekommen, halte ich kurz inne, um den Anblick der vor mir liegenden Landschaft aufzunehmen. Das Wasser ist sehr weit zurückgegangen, und ich blicke auf wellig geriffelten Sand, der gräulich braun und träge in der Sonne liegt. Algenfetzen, die aussehen, als hätte man Salatblätter über dem Strand verstreut, bilden einen hübschen farbigen Kontrast zu den dominierenden Brauntönen, über denen ein nahezu unecht aussehender kobaltblauer Himmel thront.
»Ist das nicht wunderschön?«, frage ich Timo, der sich jedoch eher für die Möwen interessiert und einer von ihnen gerade hinterherjagt, anstatt sich meinen poetisch motivierten Eindrücken zu widmen. Wieder und wieder atme ich tief ein, als könnte die jodhaltige Luft mich zum Leben erwecken. So fühlt es sich also an, das neue Jahr, überlege ich und mustere zeitgleich die Sandformationen, die im Sonnenlicht glänzen wie Gletschermoränen. Während ich weiter auf den Horizont starre, als würde dieser mir irgendwelche Antworten auf die Fragen zu meiner fernen Zukunft geben, lässt sich auf einmal eine Schneeflocke auf meiner Nasenspitze nieder, und es schieben sich Wolken vor die Sonne, was die Szenerie schlagartig verdunkelt.
»Na endlich«, sage ich zu der Flocke, zu der sich nun weitere gesellen. »Ich habe euch an Weihnachten vermisst. Aber da habt ihr immer keine Lust zu kommen, wie jedes Jahr. Wahrscheinlich habt ihr auch Weihnachtsferien und denkt gar nicht daran, genau DANN zu erscheinen, wenn es uns kitschige Menschenseelen danach verlangt. Irgendwie verständlich, ich würde es vermutlich nicht anders machen!«
Gedankenversunken gehe ich weiter und werfe Stöckchen für Timo, der heute über ein sensationelles Energiepotenzial verfügt. Mit wehenden Ohren und heraushängender Zunge tobt er über den Strand, und ich muss so lange mit ihm spielen, bis ich das Gefühl habe, dass mein Arm bald abfällt. Der Schnee wird nun tatsächlich dichter und bleibt streckenweise sogar liegen.
Der Anblick ruft mit einem Mal Kindheitserinnerungen in mir wach. Ich sehe meine Eltern vor mir, wie wir zusammen im Schnee »Christkind« spielen. Erst lassen wir uns einen verschneiten Hang hinunterrollen und bleiben dann mit gespreizten Armen und Beinen im tiefen, dicken Schnee liegen, der nach Eistruhe duftet. Dann zieht einer den anderen vorsichtig hoch und übrig bleibt ein Abdruck in der weißen Schicht. Weshalb das Spiel »Christkind« heißt, weiß ich nicht, aber das hat mich auch nie wirklich interessiert. Wichtig war nur für mich, mit meinen Eltern zusammen zu sein. Mit ihnen zu toben und zu lachen, als hätte ich damals schon geahnt, dass unsere gemeinsame Zeit begrenzt ist.
An dieser Stelle breche ich meine Gedankenreise abrupt ab. Zu sehr schmerzt die Erinnerung an meinen Vater und meine Mutter – sie fehlen mir immer noch unendlich. Wird diese Trauer denn niemals aufhören?
Um mich ein
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