Inselzauber
Fotos brauche. Aber wie gesagt, er ist kein Mann zum Verlieben, denn letztlich gibt es nur einen Menschen, den Valentin wirklich liebt, und das ist eindeutig er selbst.«
Aha, denke ich und stelle irritiert fest, dass ich zu Sexualität eine völlig andere Einstellung habe als Nele. Für mich gehört zu dieser Intimität die Liebe untrennbar dazu.
»Und du?«, eröffnet nun mein Gegenüber die Fragestunde. »Erzähl doch mal was von dir. Alles, was ich bislang weiß, habe ich aus zweiter Hand. Von Bea, Leon und Birgit Stade.«
In kurzen, knappen Sätzen erzähle ich ihr alles, was aus meiner Sicht wichtig ist, damit sie sich ein Bild von mir machen kann. Wie so häufig stelle ich fest, dass mein Leben, bis auf den Unfalltod meiner Eltern, wenig spektakulär verlaufen ist. Ich hatte unter den gegebenen Umständen eine glückliche, behütete Kindheit, war eine Zeitlang in einem Internat in St. Peter Ording, habe anschließend in Hamburg eine Ausbildung zur Hotelkauffrau gemacht und in einer WG mit einer Kollegin gewohnt. Vor Stefan hatte ich zwar die eine oder andere Liebelei, aber nichts wirklich Ernstes. Erst als ich ihn kennenlernte, hatte ich ein Ziel vor Augen: heiraten und mit ihm eine Familie gründen. Ich wollte meinen Kindern das geben, was mir selbst nur für so kurze Zeit vergönnt gewesen war.
Ruhig und konzentriert lauscht Nele meinen Worten, während ich selbst unglaublich langweilig finde, was ich da erzähle. Keine Skandale, keine Irrungen und Wirrungen, keine Abgründe, kein spannender Job – nichts.
»Ich finde, das klingt alles sehr einsam und traurig«, kommentiert Nele meine Ausführungen, und ich bekomme augenblicklich einen Kloß im Hals. Wie schön, dass sie so einfühlsam ist. »Vermisst du deine Eltern nicht immer noch?«, erkundigt sie sich weiter und streichelt dabei flüchtig meine Hand, die unruhig mit dem Kaffeelöffel spielt.
»Doch, sehr. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke und mir wünschte, ich könnte ihnen noch so vieles sagen. Oder etwas mit ihnen gemeinsam erleben.« Ich erzähle ihr von Venedig und dass Stefan nie mit mir dorthin wollte.
»Ja, Venedig ist toll, das finde ich auch«, schwärmt nun auch Nele und sieht ganz versonnen aus. »Hast du nie daran gedacht, mit einer Freundin dorthin zu fahren? Oder alleine? Wenn man alleine reist, ist man viel konzentrierter und aufnahmefähiger.«
»Aber man kann seine Eindrücke mit niemandem teilen«, entgegne ich traurig, während ich überlege, ob ich es nicht einfach mal ausprobieren soll. Ich bin noch nie alleine verreist. Schließlich höre ich immer wieder, was das für eine gute Erfahrung ist, und irgendwie gehört es zum Prozess des Erwachsenwerdens dazu. »Bist du denn schon mal alleine verreist?«, erkundige ich mich, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Würde Nele sonst mit dem Gedanken spielen, nach Mexiko oder Indien auszuwandern? »Wie hat es dich eigentlich nach Sylt verschlagen?«
Nele lächelt vielsagend und erzählt mir dann, dass sie aus einer großen Familie mit vier Brüdern stammt und von Bremen nach Hamburg gegangen ist, um Kinderbuchillustration zu studieren. Mit ein paar Kommilitonen teilte sie sich eine Wohnung an der Alster und führte alles in allem ein spannendes und abwechslungsreiches Leben.
»Und weshalb gerade Sylt?«, frage ich weiter, denn es ist mir ein Rätsel, weshalb sie nicht in einer Agentur oder für einen Kinderbuchverlag arbeitet. »Hast du dein Studium denn beendet?«
Irgendwie wundere ich mich nicht, als ich höre, dass Nele keinen Abschluss gemacht hat. Offensichtlich hat sie das Studium irgendwann nicht mehr so ernst genommen, weil die zahllosen Männergeschichten und das viele Jobben allmählich an ihre Substanz gegangen waren.
»Außerdem gab es da noch diesen Professor, Gregor Thade hieß er«, sagt Nele geheimnisvoll, und ihre grünen Augen werden für einen Moment dunkler. » DAS ist jetzt die Stelle, an der ich uns einen Prosecco hole.« Spricht’s und verschwindet in der Küche.
Prosecco um diese Uhrzeit? Es ist gerade mal halb sieben, ich weiß ja nicht so recht. Doch was soll’s. Andere Leute betrinken sich an Silvester, ich hole das eben am Neujahrstag nach.
Minuten später stoßen wir an, und ich bin gespannt zu hören, wie die Geschichte weitergeht, auch wenn ich es mir eigentlich denken kann. »Du hast dich sofort in ihn verliebt, als ihr euch gemeinsam über deine Zeichnungen gebeugt habt?«, frage ich erwartungsvoll und leere mein erstes
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