Inselzauber
ausschließlich in Keitum verbracht. Ein wenig Kampener High-Society-Luft zur Abwechslung wird mir sicher guttun.
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Kapitel 5
A m nächsten Tag holt Leon mich um 19.00 Uhr in der Bücherkoje ab. Bevor wir nach Kampen fahren – diesmal hat er sein Auto dabei –, drehen wir noch schnell eine Runde mit Timo und bringen ihn dann nach Hause, wo ich den Hund mit Futter versorge.
Punkt 20.00 Uhr startet dann die Lesung im Kamphuis, einem romantisch anmutenden, reetgedeckten Häuschen in der Nähe der Kampener Kurverwaltung, wo alle wichtigen kulturellen Veranstaltungen der Insel stattfinden. Heute Abend liest ein gewisser Marco Nardi aus seinem neuen Buch
Jenseits der Grenze.
Der Halbitaliener ist der neue Inselschreiber von Sylt, klärt Leon mich auf, und die Lesung bildet den Auftakt zu seinem Aufenthalt. Als Inselschreiber bekommt man von der Kulturbehörde und der Sylter Quelle ein Literaturstipendium, das einen achtwöchigen Inselaufenthalt bei freiem Logis in einem Ferienapartment sowie ein Honorar von 5000 Euro umfasst. Marco Nardi ist der diesjährige Gewinner, der sich gegen zweihundert Konkurrenten durchgesetzt hat, die einen Text zu dem Motto »Eine Insel ist eine Insel« verfassen mussten.
Ich bin gespannt zu hören, worum es in seinem Buch geht. Denn ich muss zu meiner Schande gestehen, dass mir sein Name nicht geläufig ist, auch wenn der Titel bei G. Ascher in Frankfurt, einem renommierten literarischen Verlag, erschienen ist.
Meist fällt es mir schwer, mich bei Lesungen zu konzentrieren, und ich bin auch kein Fan von Hörbüchern, weil ich das Erlebnis, ein Buch in Händen zu halten und Seite um Seite umzublättern, dem passiven Zuhören vorziehe. Die einzige Ausnahme bildete die abendliche Lesestunde mit Bea, bei der es allerdings in erster Linie um die Nähe zu ihr und um das Kuscheln ging und erst dann um die jeweilige Geschichte.
Entgegen meiner Erwartung schafft es Marco Nardi, mich binnen Sekunden in seinen Bann zu ziehen. Da Leon und ich als »Vertreter der örtlichen Presse« in der ersten Reihe sitzen, habe ich ausreichend Muße und Gelegenheit, den Mann genau zu beobachten, der uns eine Stunde lang aus seinem Debütroman vorliest. Er ist vollkommen konzentriert und sitzt mit geradem Rücken am Tisch, vor ihm eine Leselampe und das obligatorische Wasserglas. Ich betrachte seine schmalen, langen Finger, die eher wie die eines Pianisten wirken als die eines Autors.
Marco Nardis Ergebnis kann sich jedenfalls hören lassen. Die Geschichte fesselt mich so schnell, dass ich umgehend in der Handlung versinke. Sprachlich ist der Text ein absoluter Genuss, und auch sein Vortrag ist ein Erlebnis. Die Stunde verfliegt im Nu, und ich bin fast traurig, als Marco Nardi irgendwann das Buch zuklappt, einen hypnotischen Blick aus seinen dunkelbraunen Augen in den Zuschauerraum schickt und sich höflich für die ihm gewidmete Aufmerksamkeit bedankt.
War mir ein Vergnügen, denke ich und hätte nichts dagegen, ihm noch eine weitere Stunde zuzuhören. Doch an dieser Stelle ergreift die Kampener Pressereferentin das Mikrophon und teilt den Zuhörern mit, dass der Autor ab Mai für zwei Monate auf der Insel sein werde. Danach weist sie noch geschäftstüchtig darauf hin, dass der Büchertisch vorne im Eingangsbereich aufgebaut sei.
Ob ich mir den Roman kaufen und signieren lassen soll?, überlege ich einen Moment, während ich mich gleichzeitig dagegen entscheide, weil ich es peinlich finde, den Schriftsteller wie ein Groupie um ein Autogramm zu bitten. Andere Frauen haben offensichtlich keine derartigen Hemmungen und erwerben in ihrer Euphorie den Roman teilweise in mehrfacher Ausfertigung, so dass der Büchertisch binnen Minuten leer gekauft ist. Marco Nardi signiert mit engelsgleicher Geduld und fragt immer wieder nach, wie sich der eine oder andere Name schreibt. Leon und ich stehen artig neben dem Tisch und warten darauf, dass der Autor Zeit für das Interview mit dem
Sylter Tagesspiegel
hat.
Weil mir das Ganze doch zu lange dauert, sehe ich mich ein wenig im Foyer des Lesesaals um, wo eine Ausstellung zum Thema »Eine Insel ist eine Insel« Sylter Künstler zu den unterschiedlichsten Werken inspiriert hat. Neben zahlreichen Aquarellen, Skulpturen, Schmuck und sonstigen Objekten entdecke ich wunderschöne Fotos, auf denen ausschließlich Sandformationen zu sehen sind. Wer auch immer die Aufnahmen gemacht hat, versteht etwas von seinem Metier. Neugierig geworden, entdecke ich rechts unten eine
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