Inselzauber
erzählt von seinem letzten Fotojob in der Wüste Namibias, was so gar nicht zu dem friesischen Ambiente des Restaurants und zum Essen passen will. Auch ich bin fasziniert und merke, wie mich Fernweh packt. Es muss ja nicht gleich Afrika sein.
Mittlerweile ist auch Julia eingetroffen und setzt sich zu uns. Außer Leon, Nele, Valentin und mir sind auch noch »Becher«-Inga, wie ich sie insgeheim nenne, und Jan Herzog, ein Web-Designer und ebenfalls Stammgast im Möwennest, sowie Olaf Müller, ein Lehrer, mit von der Partie. In den vergangenen zwei Monaten habe ich dank Nele viele nette Menschen kennengelernt und fühle mich nicht mehr ganz so einsam. Dennoch überfällt mich immer noch gelegentlich der Gedanke an Stefan, und ich habe damit zu kämpfen, dass er sich nicht ein einziges Mal gemeldet hat, um sich danach zu erkundigen, wie es mir auf Sylt geht.
Als der Aquavit serviert wird, bekomme ich eine SMS und bin natürlich neugierig zu erfahren, was darin steht, auch wenn ich es nicht mag, wenn man sich in Restaurants mit Mobiltelefonen beschäftigt. Ich öffne die Nachricht und überfliege sie schnell.
Bea sehr krank, versuchen den nächstmöglichen Flug nach Deutschland zu bekommen. Mache mir große Sorgen, weil die Ärzte nicht wissen, was sie hat. Melde mich, sobald ich Näheres zu unserer Ankunftszeit weiß. Vero.
Wie vom Donner gerührt, starre ich auf mein Handy und kann nicht glauben, was ich da lese. Ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass ausgerechnet meine vitale und gesunde Tante ein Problem auf dieser Reise bekommen könnte. Die arme Vero, schießt es mir durch den Kopf, sie muss – je nachdem, wie schlimm es um Bea steht – völlig überfordert sein mit dieser Situation!
»Ist irgendetwas passiert?«, erkundigt sich Leon besorgt, was Julia mit einem leichten Heben ihrer Augenbrauen quittiert.
Ich habe nicht zum ersten Mal den Eindruck, dass es sie stört, wie gut Leon und ich uns verstehen. Selbst bei der Kochbuchpräsentation ist es mir so vorgekommen, als missfalle es ihr, wenn Leon mit mir spricht.
»Ja, scheint so«, stottere ich und beginne zu zittern.
Unwillkürlich habe ich wieder die Szene im Kopf, als eines Nachmittags, ich war gerade von einer Freundin nach Hause gekommen, mit der ich viel gelacht und herumgealbert hatte, zwei Polizisten vor unserer Wohnungstür standen. Normalerweise hätte ich die Tür nie geöffnet, wenn meine Eltern nicht da waren, aber als ich durch den Spion die uniformierten Beamten sah, fühlte ich mich nicht mehr an irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen gebunden.
Langsam, als könnte ich dadurch verhindern, dass das Unglück nach mir und meinem Leben griff, öffnete ich die Tür und ließ die Beamten, einen Mann und eine Frau, eintreten. Als die Polizistin mich vorsichtig in den Arm nahm, wusste ich Bescheid. Der Rest war reine Formsache. Ich stand in unserem Flur, umarmt von einer Fremden, und hörte fast teilnahmslos, dass meine Eltern, die an jenem Tag einen Ausflug an die Nordsee gemacht hatten, um sich ein Ferienhaus anzusehen, auf der Landstraße von einem Falschfahrer frontal gerammt worden waren. Sowohl meine Eltern als auch der Geisterfahrer waren auf der Stelle tot.
Noch heute bin ich froh, dass die beiden offensichtlich nicht hatten leiden müssen. Sie waren auf der Rückfahrt, vermutlich beschwingt von der Aussicht, ein Feriendomizil am Meer für uns erwerben zu können, denn Tage später fragte der Besitzer des Hauses an, weshalb die beiden den per Post zugestellten Kaufvertrag nicht unterschrieben hatten. Ein Haus am Meer, das war immer der Traum der beiden gewesen. Dafür hatten sie gearbeitet und viel gespart. Auch ich war begeistert von der Aussicht, die Ferien an der Nordsee verbringen zu können, und hatte schon alle meine Freundinnen dorthin eingeladen.
Doch statt eine große Einweihungsparty zu feiern, stand ich zwei Wochen später mit meinen Verwandten und den Freunden meiner Eltern vor zwei Särgen, die in ein offenes Doppelgrab versenkt wurden. Unfähig zu realisieren, was da gerade geschah, warf ich zwei rote Rosen in das tiefe Loch, an die ich einen Brief und ein Foto von mir geheftet hatte. Den Vorschlag mit dem Bild hatte Bea gemacht, denn die Polizei hatte sie noch am Tag des Unfalls verständigt, und seitdem war sie mir nicht mehr von der Seite gewichen. Auch Vero war gekommen, um meinen Eltern zum Aufbruch zu ihrer letzten Reise Lebewohl zu sagen.
Eine Freundin meiner Mutter sang »Amazing Grace«, und noch
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